Das Geheimnis der Totenmagd
könntet mich doch als Eure Dienerin ausgeben, und ich würde Euch bei allem beistehen. Darauf könnt Ihr Euch verlassen. Wir wollen doch beide Mechthilds Mörder finden!«
Anna betrachtete ihre neue Verbündete, die auf einmal aussah wie eine junge Löwin, entschlossen, gegen alle Widrigkeiten zu kämpfen.
»Einverstanden«, sagte sie erfreut.
Das Eis zwischen den beiden so unterschiedlichen Frauen war nun endgültig gebrochen, und sie spürten, dass sie einander vertrauen konnten.
»Ich muss mir noch überlegen, was ich morgen meinen Eltern erzähle«, erklärte Anna. »Aber dafür habe ich ja noch die ganze Nacht Zeit. Ich denke, bei Tagesanbruch sollten wir uns aufmachen. Von Frankfurt bis in den Taunus braucht man zu Pferd schon gut zwei Stunden. Haltet Euch also bereit, wenn der Morgen graut, ich hole Euch dann unten vor dem Turm ab.«
Die Rathausuhr hatte bereits die zehnte Stunde geschlagen, als die Totenmagd die Patriziertochter mit einer Fackel nach Hause geleitete.
Dichte Schneeflocken fielen aus dem Nachthimmel, sie umschmeichelten die erhitzten Gesichter der beiden jungen Frauen. Gemeinsam freuten sie sich über den ersten Schnee. Für einen flüchtigen Augenblick vergaßen sie ihre Sorgen und Nöte und jauchzten wie zwei kleine Kinder über die weiße Pracht, die die Gassen und Plätze der Stadt in eine glitzernde Märchenwelt verwandelte.
Herzlich umarmten sie sich wie Freundinnen, die, obgleich so fern durch ihren Stand, einander jedoch unerwartet ganz nahegekommen waren.
»Euch hat mir der Himmel geschickt«, flüsterte die Totenwäscherin Anna zu. »Ich bin so froh, dass wir uns kennengelernt haben.«
»Das geht mir genauso«, erwiderte Anna dankbar und spürte, wie gut ihr der Beistand der Totenmagd tat.
Aus den Aufzeichnungen
eines jungen Mönchs
Mit amüsiertem Lächeln verfolgte der junge Gelehrte an jenem schwülen, regnerischen Septembernachmittag den Auftritt einer Geißlergruppe auf dem Limburger Domplatz und sinnierte zynisch, dass wohl selbst die größte Bußbereitschaft nicht ausreichte, sich gegen den Tod zu wappnen. Da verstummten plötzlich die Klagelieder von der ewigen Verdammnis, die durchsetzt waren vom Weinen und Wehklagen der Selbstquäler, und er vernahm eine durchdringende Männerstimme, die mitten aus dem Geißlerpulk zu kommen schien.
»Der große Gleichmacher fordert zum letzten Tanz, niemand kann ihm widerstehen, alle folgen ihm!«
Die Menge aus Geißlern und Zuschauern öffnete sich und bildete einen Kreis, an dessen Rand auch er sich unversehens befand. Schon wollte er sich unwillig aus dem Gedränge zurückziehen, als sein Blick auf den Mann fiel, der hoch aufgerichtet im Zentrum des Kreises stand. Bei seinem Anblick stockte ihm unwillkürlich der Atem. Mit dem weißgekalkten Gesicht und den mit Kohle geschwärzten Augenhöhlen sah er so unheimlich und furchterregend aus wie der Tod selbst.
»Wer hat Angst vorm Schwarzen Mann? – Keiner! – Und wenn er aber kommt? – Dann laufen wir! – Doch er kriegt sie alle, den Papst, den Kaiser, den Bettler, die Hure und das Kind«, fuhr der Redner in düsterem Singsang fort, während er sein Publikum eindringlich fixierte. »Macht, Ehre, Reichtum und Ruhm sind nichtig in der Stunde des Todes!« Während er langsam den Kreis abschritt, deutete er auf einzelne Zuschauer und rief aus: »Du bist es, du bist der Nächste! – Ihr fürchtet Euch alle so entsetzlich vor ihm, ihr armen Wichte. Aber es ist ein großer Unterschied, ob man den Tod als das Ende sieht oder als den Anfang. – Er ist ein Anfang! Der Anfang des ewigen Lebens. Der Tod ist das Siegel der Ewigkeit, das über all unseren Mühen und Plagen leuchtet, über allem Schmutz, aller Erbärmlichkeit, aller Armut, aller Widerwärtigkeit, allen Abgründen unseres Lebens. – Und plötzlich steht er leibhaftig vor dir, spielt dir auf zum letzten Tanze, und du flehst ihn an, er möge dich doch verschonen. Nur für dieses eine Mal. Doch er hat dich schon längst am Wickel und gibt dich nicht mehr her. – Du musst den Tod lernen. Jeder muss ihn lernen. Nur wer den Tod nicht fürchtet und ihm offenen Herzens entgegentritt, der hat das Himmelreich gefunden und das ewige Leben schon auf Erden. Er hat den inneren Frieden, der da durchdringt alle Anfechtung und Widerwärtigkeit, Elend und Schande des Daseins. Er schenkt die Ruhe, darin man fröhlich sein kann. – Ich bin dem Tod von Angesicht zu Angesicht begegnet, als ich vor ein paar Wochen an der
Weitere Kostenlose Bücher