Das Geheimnis der Totenmagd
Kinder, und die Geißler aßen ein karges Nachtmahl aus ein paar Feldfrüchten und einer Handvoll Getreidekörnern, die unterwegs gesammelt worden waren. Der junge Mönch hatte Mühe, überhaupt etwas zu sich zu nehmen, so sehr ekelte ihn der Gestank nach Blut und altem Schweiß, der von den Bußfertigen ausging. Allein sein quälender Durst nötigte ihn, das irdene Trinkgefäß mit Quellwasser zu ergreifen, das in der Runde an ihn weitergereicht wurde. Die dreckstarrenden Gesichter und die verfilzten, zotteligen Haare und Bärte seiner neuen Gefährten riefen in ihm, dem stets auf Reinlichkeit Bedachten, eine kaum überwindbare Abscheu hervor.
Der Mönch fand keine Gelegenheit, mit dem Meister ins Gespräch zu kommen, der weit von ihm entfernt Platz genommen hatte. Im Flackern des Feuers konnte er lediglich das skelettartige Antlitz erkennen, das ihn mit einem tiefen, befriedigenden Grauen erfüllte. Bald darauf klatschte der Anführer in die Hände, und die Geißler legten sich zum Schlafen nieder.
Der Gelehrte war von dem langen Marsch und der drückenden Gewitterstimmung so erschöpft, dass er rasch einschlief. Mitten in der Nacht wurde er von lautem Donnergrollen und angstvollen Schreien aufgeweckt. Über den Nachthimmel zuckten grelle Blitze, denen krachende Donnerschläge folgten. Dicke Tropfen fielen, und wenig später öffnete der Himmel seine Schleusen, es goss wie aus Kübeln. Unter den Menschen herrschte großer Aufruhr, die meisten rannten zum Fluss, um unter den Weiden Schutz zu suchen, Frauen und Kinder weinten vor Angst. Im allgemeinen Wirrwarr war die sonst so strenge Trennung zwischen Männern und Frauen unvermittelt aufgehoben, und beiderlei Geschlechter drängten sich dicht an dicht unter den vor Nässe triefenden Bäumen an der vom Wolkenbruch aufgeweichten Uferböschung. Und so dauerte es nicht lange, bis die ersten Paare anfingen, miteinander zu kopulieren. Immer mehr Männer und Frauen ergaben sich, völlig durchnässt und lehmverschmiert, der Wollust, die durch die erzwungene lange Enthaltsamkeit aufgestauten Sehnsüchte brachen sich bald vollends Bahn und entluden sich tosend wie die Elemente in einer zügellosen Massenorgie.
10
Anna war wie geblendet, als sie am nächsten Morgen aus dem Fenster blickte und die dicke weiße Schneedecke sah. Mit einem versonnenen Lächeln erinnerte sie sich, wie sie mit Katharina über den ersten Schnee gejubelt hatte. Für kurze Zeit hatten beide ihre Trauer und Schwermut vergessen und zusammen gelacht und gejohlt wie Kinder. Anna hatte sich in diesem Augenblick so wundersam befreit und glücklich gefühlt wie selten in ihrem Leben. Plötzlich sah sie wieder Katharinas anmutiges Gesicht vor ihrem inneren Auge und fühlte eine tiefe Zuneigung zu der jungen Totenwäscherin.
Anna war guter Dinge, obgleich sie kaum ein Auge zugetan hatte, und während sie sich ankleidete und reisefertig machte, fiel ihr ein, wie sie ihren Eltern gegenüber die Exkursion in den Taunus rechtfertigen könnte.
Als sie wenig später die behagliche warme Wohnstube betrat, wo ihre Eltern schon am Tisch saßen und mit gramvollen Mienen ihren Grießbrei mit Honig löffelten, begrüßte sie zuerst ihre Mutter und dann den Vater mit einem herzhaften Kuss auf die Wange, um ihnen dadurch schon ein wenig den Wind aus den Segeln zu nehmen.
»Na, du scheinst ja in aufgeräumter Stimmung zu sein«, näselte die Hausfrau vorwurfsvoll und warf ihrer Tochter einen indignierten Blick zu. »Wo bist du denn gestern Abend so lange gewesen? Schließlich haben wir ein Trauerhaus, da schickt es sich nicht, wenn die Tochter des Hauses bis zehn Uhr in der Nacht herumscharwenzelt.«
»Deine Mutter und ich haben uns schon schlimme Sorgen gemacht. Es hat nicht mehr viel gefehlt, und ich hätte einen Hausknecht zum Steinernen Haus geschickt und dich heimholen lassen«, schimpfte nun auch der Vater und musterte seine wie immer schmucklos und schlicht gekleidete Tochter ungnädig.
»Es tut mir leid, dass ihr euch Sorgen gemacht habt. Aber ›herumscharwenzelt‹, liebe Mutter, bin ich nicht. Ich habe mit … mit Klara über meine Schwester gesprochen, weil ich mich mal bei jemandem aussprechen musste. Glaubt nur nicht, dass mir das mit Mechthild nicht nahegeht, nur weil ich nicht den ganzen Tag lang am Heulen bin!«, blaffte Anna zurück und war, was selten genug geschah, unversehens wütend geworden. Die Eltern schwiegen betroffen.
»Wir wissen sehr wohl, dass du um Mechthild trauerst und dass du sie
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