Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Geheimnis der Totenmagd

Das Geheimnis der Totenmagd

Titel: Das Geheimnis der Totenmagd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Neeb
Vom Netzwerk:
Pest erkrankte, und habe mit ihm geschachert und gerungen.« Der Knochenmann wies auf seine noch frisch vernarbten Wundmale im Achselbereich und am Oberkörper, während im Publikum lautes Aufstöhnen zu vernehmen war. »Dabei ist er mir zu einem guten Freund geworden. Er hat mich verschont, damit ich ihn euch lehre. Ich lehre euch den Tod – folgt mir nach, und eure Herzen werden frei sein von Furcht, ich werde euch von den Fesseln des Leibes befreien und euren Geist obsiegen lassen!«
    Wie gebannt lauschten die Menschen, viele schienen tief ergriffen und weinten. Auch dem jungen Mönch rannen Tränen über die Wangen, sosehr hatte ihm der Prediger aus der Seele gesprochen. Der Redner umrundete erneut den Kreis und zeigte auf einzelne Leute. Einem dicken Mann rief er höhnisch zu, dass die Fettesten zuerst verrotteten, einer herausgeputzten Frau raunzte er entgegen, die eitlen Metzen begatte der Schnitter am liebsten, einem vornehm gekleideten Patrizier zischte er ins Gesicht: »Elender, welchen Grund hast du für deinen Stolz?« Dann näherte er sich dem jungen Gelehrten und beschied ihn sarkastisch, dass ihn all sein Bücherwissen auch nicht retten könne.
    Seit seinem unrühmlichen Ausscheiden aus der Zisterzienserabtei Marienstatt war der junge Mönch zu einem heimatlosen Gesellen geworden. Er zog über die Lande und verweilte nirgendwo länger. Dem Ausbruch der Pest begegnete er mit dem stoischen Fatalismus eines Menschen, der ohnehin unentwegt mit der Apokalypse befasst war. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er an der Pest erkranken und sterben würde.
    Der fremde Prediger hatte ihn zutiefst beeindruckt. Stimmten doch seine Worte über den Tod auf verblüffende Weise mit den Lehren der geheimen Offenbarung des Jakobus überein, deren Übersetzung der Gelehrte in einem kunstvoll gefertigten Buchbeutel aus Leder an seinem Gürtel trug.
    Er erkannte in dem Mann mit dem verwegenen weißgekalkten Gesicht einen Seelenverwandten. Von dieser wundersamen Erkenntnis war er so ergriffen, dass ihm zunächst die Worte fehlten. Dann trat er auf den Geißlerführer zu und stieß keuchend hervor: »Ich möchte Euer Gefolgsmann werden, Meister. Darf ich mich Euch anschließen?«
    »Ihr seid uns willkommen, Bücherwurm! Für 33 Tage und acht Stunden kann sich uns jeder anschließen, der bereit ist, sich dreimal täglich öffentlich zu geißeln und den bösen Leidenschaften abzuschwören«, krächzte der Totenschädel mit inzwischen schon heiserer Stimme.
    Als die Geißler in den frühen Abendstunden die Domstadt Limburg an der Lahn hinter sich ließen, hatte der ortsansässige Sattler, der in geschäftstüchtiger Voraussicht rasch einen Verkaufsstand auf dem Domplatz aufgeschlagen hatte, fürwahr ein gutes Geschäft gemacht. Rund dreißig Lederpeitschen und neunschwänzige Katzen hatte er an Leute verkauft, die sich den Flagellanten zugesellen wollten. Eine der Geißeln hatte der junge Mönch erworben. Sein edles Samtbarett und die teure Schaube tauschte er bei einem gleichfalls am Rande des Platzes vertretenen Lumpenkrämer gegen eine unförmige schwarze Kapuze und eine weite, erdfarbene Kutte aus grobem Sackleinen. Wie alle neu Hinzugekommenen marschierte er am Ende des Männerzugs. Neben ihm ging ein halbnackter Mann mit grobschlächtigen Gesichtszügen, der sich in Ermangelung eines Holzkreuzes ein rotes Kreuz auf den muskulösen Oberkörper gepinselt hatte. Der Zug erstreckte sich in Zweierreihen schier endlos vor ihm, so dass er den faszinierenden Anführer, der in Begleitung eines alten Mannes an der Spitze der Prozession schritt, bedauerlicherweise nicht sehen konnte. Zudem behagte es dem vergeistigten jungen Mann wenig, dass einige Reihen hinter ihm der Frauenzug begann. Die Nähe zu den Frauen und Kindern empfand er als Herabwürdigung. Ihn störten die schrillen Schreie und das lautstarke Kreischen und Stöhnen, das aufdringlich ihre Selbstgeißelung begleitete, und er war froh darüber, sie wenigstens nicht vor Augen zu haben. Der Anblick der Weiber vorhin auf dem Domplatz war ihm schon unangenehm genug gewesen. Immer noch sah er ihre geschundenen entblößten Rücken vor sich und die blanken Brüste, die schamlos zur Schau gestellt wurden, wenn während des Auspeitschens der Umhang verrutschte.
    In der Dämmerung erreichte die Prozession die kleine Ortschaft Selters und schlug am Emsbach ihr Nachtlager auf. In den Flussauen wurden zwei Lagerfeuer entfacht, eines für die Männer, eines für die Frauen und

Weitere Kostenlose Bücher