Das Geheimnis der Totenmagd
wie wir alle sehr gern hattest«, murmelte der Familienpatriarch betreten und hüstelte nervös, um seine Ergriffenheit zu kaschieren.
Die Mutter presste sich schon wieder ein Tuch an die Augen und schluchzte mit tränenerstickter Stimme: »Anna, du bist das einzige Kind, das uns noch verblieben ist. Es ist doch natürlich, dass wir uns um dich sorgen. Wir möchten dich nicht auch noch verlieren!« Tröstend legte ihr der Gatte die Hand auf die Schulter. Anna, der die gesamte Szenerie schon wieder erheblichen Verdruss bereitete, nahm nun all ihren Mut zusammen und erklärte mit fester Stimme:
»Nehmt es mir bitte nicht übel, aber mir steht momentan der Sinn nach Ruhe und Einsamkeit. Ein jeder hat seine eigene Art, mit Trauer umzugehen. Und deswegen wollte ich Euch um Erlaubnis bitten, ob ich auf unser Jagdschloss nach Falkenstein fahren darf?«
Als die Eltern sie erstaunt anschauten und mit einer Antwort zögerten, fuhr sie fort: »Ich glaube, die verschneiten Taunuswälder würden meiner Seele momentan sehr guttun. Die Marie könnte mitkommen und dort einheizen und für mich kochen, und der Jockel könnte uns begleiten, damit wir einen Beschützer hätten.« Sie sprang von ihrem Stuhl auf, umhalste den Vater und flehte: »Bitte, Papa, erlaub es mir doch! Nur für ein paar Tage, ich bin auch bald wieder zurück.«
»Josef, das ist gar keine schlechte Idee. Die gute Taunusluft würde uns doch allen momentan sehr guttun!«, rief Frau Stockarn, deren Tränen beim Gedanken an eine winterliche Landpartie in den Taunuswald zu versiegen schienen.
Na, du kommst mir grad noch geschlichen!, dachte Anna erbost. Jetzt galt es, kühlen Kopf zu bewahren und sich, ohne die Mutter vor den Kopf zu stoßen, einigermaßen elegant aus der Affäre zu ziehen. Und so entschloss sie sich, wie sie es bei ihrem Lieblingsspiel, dem Schach, so meisterhaft verstand, zu einer Finte.
»Du kommst doch auch mit, Papa?«, fragte sie scheinheilig. Und ihr Plan ging auf.
Bedauernd entgegnete Josef Stockarn: »Nein, mein Kind, das wird mir leider nicht möglich sein. Jetzt, wo Willibald nicht mehr da ist und ich keinen verlässlichen Stellvertreter habe, kann ich die Geschäfte nicht unbeaufsichtigt lassen. Aber du könntest doch mit der Mutter schon mal alleine hochfahren, und ich komme dann am Samstagnachmittag nach.«
Anna hielt die Luft an und sah ihre Mutter an. Würde sie ihrer Rolle als vorbildliche Gattin treu bleiben? Doch die Mutter schien unentschlossen. »Ich weiß nicht recht …«, murmelte sie. Der Vater tätschelte ihre Schulter und ermunterte sie mitzufahren. Er komme die zwei Tage schon alleine zurecht.
Frau Hedwig schnaufte. Dann sagte sie entschieden: »Nein, nein, Josef, das kommt überhaupt nicht in Frage! Was würden denn die Leute denken, wenn ich mich kurz nach dem Tode unseres geliebten Kindes auf unserem Landsitz verlustiere und meinen Mann einfach sich selbst überlasse. Ich bleibe hier. Anna, das verstehst du doch hoffentlich. Dein Vater und ich kommen dann zum Wochenende nach.«
In diesem Moment hätte Anna ihre Mutter am liebsten umarmt. Stattdessen gab sie sich ein wenig enttäuscht und erklärte einsilbig, dass es für sie dann aber höchste Zeit sei aufzubrechen. In Anbetracht der Witterung würde sie Jockel statt der Kutsche den Schlitten anspannen lassen, was die Eltern sehr befürworteten.
»Und zieh dich nur warm an. Im Taunus bläst immer ein rauer Wind«, rief die Mutter ihr noch fürsorglich nach. Zum Glück konnte sie nicht sehen, dass Anna schalkhaft in sich hineingrinste.
*
Als der komfortabel mit Fell ausgepolsterte Pferdeschlitten, gezogen von vier kräftigen Kaltblütern, durch die Mainzerpforte fuhr, brach die Sonne durch die Wolken und wärmte die Gesichter von Anna, Katharina, und der Dienerin Marie, die allesamt mit Pelzdecken bis unters Kinn vor der Kälte geschützt waren. Katharina, die beim Anblick des feudalen Gefährts, das sie vor ihrem Wohnturm abgeholt hatte, vor Begeisterung gejubelt hatte, geriet wieder in düstere Stimmung, sobald sie den Mainzerturm gewahrte und an den Vater denken musste, der dort so jämmerlich in Ketten lag.
»Der Pfarrer hat zwar gesagt, dass der Vater nicht mehr zu retten ist, aber ich werde dennoch nichts unversucht lassen«, sagte sie entschlossen. »Und ich bin zuversichtlich, dass uns dieser Kilian von Hattstein ein gutes Stück weiterbringen wird. In Frankfurt kann ich nichts für den Vater tun, ich darf ihn ja nicht einmal besuchen. Erst am Abend
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