Das Geheimnis der Totenmagd
vor der Hinrichtung lässt man mich zu ihm. Aber ich hoffe von ganzem Herzen, dass wir das verhindern können.«
Anna ergriff unter der Felldecke die Hand der Totenwäscherin. »Das hoffe ich auch!«, bekräftigte sie und nickte zuversichtlich.
Der Pferdeschlitten fuhr am Main entlang in Richtung des kleinen Städtchens Höchst. Rechter Hand lagen die weiten verschneiten Felder der Frankfurter Vororte, auf denen der Schnee in der Sonne wie ein Diamantentuch glitzerte. Katharina, die in ihrem ganzen Leben noch nie über die Frankfurter Stadtgrenzen hinausgelangt war, freute sich an der Landschaft und dem klaren, kalten Himmel und fing trotz allem an, die Fahrt zu genießen.
Hinter Höchst nahmen sie die Landstraße entlang des Flusses Liederbach. Nach etwa einer Stunde Fahrt, vorbei an verschneiten Feldern und einsamen Gehöften, war vor ihnen eine kleine Ansiedlung zu sehen.
»Das muss Kelkheim sein«, bemerkte Anna, die Wangen vor Kälte gerötet. Sie wandte sich an ihre Dienerin: »Was hältst du davon, Marie, wenn wir bei deinen Leuten in der Mühle eine kleine Rast einlegen?«
»Das wäre zu schön, Herrin!«, lispelte die junge Magd beglückt. »Meine Leute würden sich so darüber freuen und uns auch gewiss was Feines auftischen.«
»Und noch mehr freuen werden sie sich, wenn sie hören, dass du ein bisschen bei ihnen bleiben kannst«, entgegnete Anna mit spitzbübischem Lächeln.
»Was? Davon habt Ihr mir ja gar nix gesagt«, erwiderte die Hausmagd überrumpelt. »Aber wer heizt Euch denn dann auf dem Jagdschloss die Stube und kocht das Essen?«
»Darüber musst du dir keine Sorgen machen. Ich habe eigene Pläne, deswegen bleibst du am besten auf der Mühle, und ich hole dich dann am Rückweg wieder ab. Versprich mir nur eines: Du darfst meinen Eltern gegenüber kein Sterbenswörtchen davon sagen. Kann ich mich darauf verlassen?« Anna sah ihre Bedienstete aufmerksam an und hob in gespielter Strenge den Zeigefinger.
Die Augen der Magd weiteten sich angstvoll. »Was habt Ihr denn vor, Herrin? Wenn Euch irgendwas zustößt … Und wenn die Herrschaften davon erfahren, bekomme ich den größten Ärger!«, entgegnete sie weinerlich.
»Mir passiert schon nichts. Der Jockel ist doch bei mir, und meine Freundin hier auch.« Anna wies auf Katharina.
»Freundin? – Das ist doch die Totenfrau«, murmelte Marie und bekreuzigte sich verstohlen.
»Jetzt hör aber mit diesem abergläubischen Getue auf, Marie! Versprich mir, dass du schweigst, dann darfst du eine Zeit bei deiner Familie verbringen. Gleich sind wir bei der roten Mühle, da wollen wir uns aufwärmen und stärken, und ich will nichts mehr davon hören«, beschied Anna ihre Magd resolut. Diese nickte eingeschüchtert.
Während die kleine Reisegesellschaft in der zur Mühle gehörigen Gaststube heißen Würzwein trank und von Maries Mutter mit herzhaftem Hirschragout bewirtet wurde, weihte Anna den treuen Jockel in ihre Pläne ein und drückte ihm eine Kupfermünze in die schwielige Hand.
»Gut, dass wir nicht nur einspännig sind, sonst würden wir die steile Billtalhöhe hinter Königstein nicht raufkommen«, brummelte der alte Hausknecht. »Und wollt Ihr dann nach Eurem Besuch auf der Burg Hattstein noch weiter nach Falkenstein?«, erkundigte er sich mürrisch.
»Nein, das wird zu spät. Da kommen wir in die Dunkelheit. Aber vielleicht könntest du, während die Bacherin und ich auf der Burg sind, schon mal nach einer geeigneten Unterkunft Ausschau halten?«
Die großzügige Spende seiner jungen Herrin hatte Jockel zwar hilfsbereit gemacht, aber nun schaute er finster drein. »Ich kenn aber nur die Strecke von der Billtalhöhe bis zum Eselseck. Dahinter beginnt ja auch schon der Hohe Taunus.«
Anna lächelte den vierschrötigen Knecht entwaffnend an. »Zum Glück habe ich eine Reisekarte dabei. Schau her.« Sie hatte eine Papierrolle aus ihrer Reisetasche geholt und breitete sie auf dem Tisch aus. »Hier ist das Eselseck, wo die Pferde getränkt werden können«, erläuterte sie mit dem Finger auf der Karte. »Dann müssen wir hinauf bis zum Limesdurchlass, dem sogenannten ›Roten Kreuz‹. Das ist ein sehr steiler Anstieg, aber dann geht es nur noch bergab, durch die Ortschaft Reifenberg bis wir ins Weiltal kommen. Dann fahren wir ein ganzes Stück an der Weil entlang, bis wir rechter Hand eine bewaldete Anhöhe sehen. Da ist die Burg Hattstein, wo wir hinmüssen.«
»Mit dem Finger auf der Landkarte reist es sich leichter als über
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