Das Geheimnis der Totenmagd
hatte. Seine Verärgerung war ihm noch deutlich anzumerken.
»Ich möchte mich für die schlimmen Kränkungen, die Euch meine Mutter zugefügt hat, in aller Form entschuldigen«, erklärte sie entschuldigend. »Aber sie ist eben eine verwöhnte Patrizierin, die nichts vom wirklichen Leben weiß.«
»Ihr könnt ja nichts dafür. Ihr habt Euch ja mir gegenüber auch anständig verhalten. Aber so etwas erbost mich«, entgegnete der Lohgerber bitter. »Nur weil ich arm und schäbig gekleidet bin, bin ich noch lange kein Bettelbruder. Ich verdiene mein Brot mit harter Arbeit, rackere tagaus, tagein und bin nicht auf Almosen angewiesen. Ich habe ein braves Weib, das gut haushalten kann, und liebe, tapfere Kinder, die nicht murren, wenn’s nur wenig zu essen gibt. – Nichts für ungut, aber das musste ich einfach loswerden«, fügte er hinzu. »Und jetzt sollten wir an einen Ort gehen, wo wir in Ruhe sprechen können. Ich muss nämlich heute Mittag wieder schaffen, einen ganzen Tag ausfallen zu lassen, kann ich mir nicht leisten. Aber das mit meinem Bruder liegt mir doch sehr am Herzen …«
»Dann gehen wir doch am besten in eine der Schenken unten am Fahrtor«, schlug Anna vor. »Dort ist es warm, und wir können uns stärken. – Und bitte, tut mir den Gefallen, und betrachtet Euch als meinen Gast.«
»Das kommt ja überhaupt nicht in Frage, dass ich mich von einer Dame freihalten lasse«, widersprach der Lohgerber. »Für eine heiße Brühe wird’s schon noch reichen.«
Anna fügte sich, und sie betraten eine einfache Schenke an der Mainbrücke, die hauptsächlich von Fuhrleuten und Torwächtern frequentiert wurde. An einem kleinen Tisch unweit des Kachelofens, wo sie ungestört waren, ließen sie sich vom Wirt eine heiße Wurstsuppe mit Grieben und zwei dicke Scheiben Roggenbrot servieren und aßen hungrig.
Anna erzählte von ihrer Schwester, dass sie sich damals mit ihrem Bräutigam ebenfalls den Geißlern angeschlossen hatte und wie sich ihr Wesen nach der Rückkehr verändert hatte. Sie erwähnte auch Pater Kilian, den Krankentröster ihrer Schwester, der inzwischen unauffindbar sei, und die seltsamen Ereignisse auf dem Peterskirchhof in der Nacht von Allerheiligen.
»Für mich besteht kein Zweifel daran, dass meine Schwester und Euer Bruder Tobias Opfer von Ritualmorden wurden. Und die Geißler sowie diese ominöse Gebetsgruppe haben etwas damit zu tun. Auch zwischen Pater Kilians Verschwinden und den beiden Morden muss es einen Zusammenhang geben«, resümierte sie nachdenklich.
»Und der ehemalige Bräutigam Eurer Schwester, der mit ihr bei den Geißlern war – könnt Ihr den nicht mal fragen? Das könnte uns doch vielleicht weiterhelfen«, warf der Färber ein, dessen hageres Gesicht vor Anspannung gerötet war.
»Daran habe ich auch schon gedacht. Doch seit der Trennung von Mechthild befindet er sich die meiste Zeit auf Handelsreisen in fernen Ländern und kommt nur noch zu den Messen nach Frankfurt.« Anna zuckte bedauernd mit den Schultern. »Die nächste Messe ist erst nächstes Jahr im Frühjahr. Aber es gibt da noch eine sehr interessante Spur, der wir unbedingt nachgehen sollten. Das habe ich Euch noch gar nicht erzählt.« Anna blickte den Lohgerber, der wie gebannt an ihren Lippen hing, aufgeregt an. »Inzwischen bin ich mir nämlich sicher, in der Gebetsgruppe meiner Schwester den Henker erkannt zu haben. Ich habe mich bislang noch nicht getraut, ihn allein aufzusuchen. Doch wenn Ihr mich zu ihm begleiten würdet?«
Der Lohgerber war bei der Erwähnung des Henkers zusammengezuckt.
»Der Angstmann?«, stammelte er verängstigt. Mit einem Mal schien ihm jeglicher Mut abhandengekommen, nervös nagte er an seinen Fingernägeln.
»Ja, genau der«, erwiderte Anna sachlich. »Ich kann Euch verstehen, alle fürchten sich vor dem Mann des Todes. Aber wenn wir Licht in die Angelegenheit bringen wollen, werden wir wohl oder übel mit ihm sprechen müssen.«
Der Lohgerber war ganz blass geworden, Schweißtropfen glitzerten auf seiner faltigen, wettergegerbten Stirn, und der Ausdruck seiner unsteten Augen kündete von arger Bedrängnis. »Alles, nur das nicht!« Er bekreuzigte sich hastig. »Wenn’s sein muss, geh ich mit Euch in den Gutleuthof zu den Aussätzigen oder in den Narrenturm zu den Unsinnigen. Aber zum Angstmann kriegen mich keine zehn Pferde«, stammelte er voller Panik. »Wer mit dem Henker Umgang pflegt, der ist des ehrbaren Handwerks nicht mehr fähig! Wenn das ruchbar würde,
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