Das Geheimnis der Totenmagd
täten die mich gleich aus der Gerberinnung ausschließen, und dann müssten wir betteln gehen.«
Als er Annas enttäuschte Miene wahrnahm, leistete er mit belegter Stimme Abbitte: »Nehmt mir das nicht übel, bitte. Wenn ich ledig und kinderlos wäre, würde ich es riskieren. Aber am Bettelstab zu hängen, das kann ich meiner Frau und den Kindern nicht antun.«
17
Am Abend desselben Tages, eine gute Stunde, nachdem ihr Ehemann Ruprecht Bacher seinen Dienst angetreten hatte, erhob sich Katharina schwerfällig von ihrem Strohsack, um sich ausgehfertig zu machen. Sie schleppte sich zur Waschschüssel, wusch sich notdürftig Gesicht und Hände und fuhr sich beiläufig mit den Fingern durch die glanzlosen, strähnigen Haare. Dann griff sie nach der zerknitterten Haube, die neben ihrer Schlafstatt lag, stülpte sie sich über und stopfte die hellbraunen Haare lieblos hinein. Das blaue Wollkleid, das sie vom Boden aufklaubte, war schmuddelig und roch nach Schweiß. Egal, beschloss sie gleichgültig und schlüpfte hinein, ich werde es ja sowieso bald wieder ausziehen … Sie bemerkte, dass es ihr viel zu weit geworden war und an ihrem abgemagerten Körper schlackerte wie ein Sack. Auch der alte schwarze Wollmantel hing über ihren knochigen Schultern wie an einer Vogelscheuche. Seit der Hinrichtung ihres Vaters, die nun schon fast drei Wochen zurücklag, war sie deutlich abgemagert. In letzter Zeit erbrach sie sich häufig, nachdem sie gegessen hatte, und oft machte sie sich gar nicht mehr die Mühe, noch etwas zu sich zu nehmen. Vielleicht fühlte sie sich deshalb so kraftlos. Fast alles war ihr zu anstrengend geworden, vor allem die Arbeit im Haushalt. Die Dinge blieben einfach liegen. Es war ihr mit der Zeit egal geworden.
Zuweilen hatte sie versucht, sich gegen diese stumpfe Gleichgültigkeit zu wehren, hatte sich, einer Ertrinkenden gleich, bemüht, strampelnd an die Oberfläche zu gelangen und die bleierne Lethargie zu durchbrechen. Doch das Meer der Trägheit war einfach zu tief.
Früher hatte sie sich über jeden Sonnenstrahl gefreut, inzwischen mochte sie das Tageslicht nicht mehr und verkroch sich den ganzen Tag in ihren Strohsack. Die Dunkelheit kam ihr gelegen, denn nach Einbruch der Dämmerung waren kaum noch Leute unterwegs. Zumindest keine unbescholtenen. Wie von einem dichten unsichtbaren Kokon umgeben, bewegte sich Katharina durch die Gassen, fast in Trance, aber dennoch zielstrebig. Nur ein paar zwielichtige Gestalten drückten sich in dunklen Winkeln herum, auf der Suche nach einer Bleibe und einem Quantum Branntwein, das ihnen Wärme und Vergessen schenkte. Hier und da sah sie eine wohlfeile Frau, die auf den öffentlichen Plätzen des nächtlichen Frankfurt auf Kundenfang ging. Für ehrbare Frauen galt es als verpönt, sich nachts noch in den Gassen herumzutreiben. Doch das tangierte Katharina nicht. Sie war zu einer Getriebenen geworden, die alles auf sich genommen hätte, um zu ihm zu gelangen. Zu ihm und … dem schweren roten Wein, den er ihr immer zu trinken gab und von dem es ihr so unsagbar wohl zumute wurde. Nun weiß ich, wie das Glück schmeckt. Es schmeckt leicht bitter und betäubt die Zunge, und es schmeckt nach mehr!
Sie beschleunigte ihre Schritte, weil sie es kaum noch erwarten konnte, erneut in die schwarze Glückseligkeit einzutauchen. In einen süßen, lustvollen Traum, der sie wunschlos glücklich machte. Dann würde sie wieder den ganzen Tag über schlafen oder wohlig vor sich hin dösen, ganz berauscht von den zauberhaften Nächten mit ihm und dem wundersamen Trank. Längst vermochte sie nicht mehr zu unterscheiden, ob es Traum oder Wirklichkeit war, was ihr in jenen Stunden widerfuhr.
Endlich stand sie vor dem Haus »Zum Greif« in der Sandgasse. Kaum dass sie das zwischen ihnen vereinbarte Klopfzeichen gegeben hatte, öffnete er ihr die Tür, und sie sanken einander in die Arme. Sie verzehrten sich in wilden Küssen, verschmolzen in einzigartiger Harmonie, die tief aus ihrem Innern zu kommen schien und sie mit reinem Entzücken erfüllte.
Bei jedem Treffen öffnete ihm die Totenwäscherin ihr Herz ein wenig mehr. Niemals zuvor hatte sie jemandem so sehr vertraut. Und ihm schien es genauso zu gehen.
»Schon immer habe ich mir gewünscht, Arzt zu werden«, gestand er ihr, während sie in seinen Armen lag. »Doch als Sohn eines Landjunkers, der das väterliche Gut übernehmen sollte, blieb mir dieser Wunschtraum leider verwehrt.«
Erstaunt sah ihn Katharina an: »Aber
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