Das Geheimnis der Totenmagd
nachsichtigem Lächeln. »Aber mit der letzten Pest ist er komisch geworden. Damals hat er sich den Geißlern angeschlossen, und als er nach ein paar Monaten zurückgekommen ist, war er wie umgewandelt. Wollte mit niemandem mehr was zu schaffen haben, wo er doch früher so ein geselliger Kerl war. Kam auch nicht mehr zu uns, obwohl er die Kinder immer so gerne hatte, und ist auch nicht mehr ins Wirtshaus gegangen. Ein richtiger Frömmler ist er geworden, das hätte ich bei ihm nie für möglich gehalten. Ein Mannsbild wie der Tobi, der nie was hat anbrennen lassen. – Ach, Verzeihung. Es geziemt sich nicht, so mit einer Dame zu sprechen«, bemerkte er errötend und hüstelte verlegen.
»Nein, nein, ziert Euch nicht! Fahrt bitte fort«, ermunterte ihn Anna.
»Mit einem Schlag wollte er nichts mehr von mir wissen. Wenn ich mit ihm reden oder ihm was Gutes tun wollte, hat er das Maul nicht mehr aufgekriegt. Er hat nur noch durch einen hindurchgeguckt, als wär man Luft für ihn. Am Anfang hat mich das richtig wütend gemacht, weil ich so eine Verstocktheit gar nicht bei ihm kannte. Nur mit so einer komischen Betschwester hat er sich ab und zu getroffen. Die sah aus wie aus dem Grab gestiegen, so rappeldürr und bleich, wie die war, und immer in schwarzer Trauerkleidung, richtig unheimlich. Ein paarmal hab ich sie bei ihm zu Hause gesehen, wenn ich ihn besuchen wollte, aber dann ist die Frau immer gleich gegangen. Irgendetwas hatten die zu verbergen, aber ich weiß bis heute nicht, was. Und dass der Tobi was mit der hatte, kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Die war doch das reinste Gerippe. Er tät mit ihr zusammen beten, mehr war aus dem nicht rauszukriegen. Und da waren auch noch andere Schwarzkutten. Einmal war ich beim Tobi, und da wollte er mich gar nicht reinlassen, er hätte Besuch. ›Ist deine Betschwester wieder da?‹, hab ich gesagt und mich einfach an ihm vorbeigedrängt, weil mich das geärgert hat. Und dann saßen da ein paar düstere Gestalten am Tisch, auf dem nur eine armselige Funzel geflackert hat. Die Fensterläden waren zu, und in ihren schwarzen Kapuzenmänteln und mit den bleichen, eingefallenen Gesichtern haben sie so unheimlich ausgesehen, dass ich mich vor Schreck bekreuzigt hab und schnell wieder raus bin. Einer von denen, der hatte sogar eine blutrote Kutte an, wie sie die Brüder des Mitleids damals während der Pest immer getragen haben.«
Der Lohgerber unterbrach sich und sah Anna erschrocken an. »Was ist denn mit Euch? Ihr seht ja aus, als hättet Ihr einen Geist gesehen. Ist Euch nicht wohl?«, erkundigte er sich besorgt. Während seines Berichts war Anna ganz fahl im Gesicht geworden, jetzt sprang sie auf und eilte zum Wandbord. Neben einer Anzahl feingearbeiteter Zinnbecher stand dort auch eine kleine Flasche aus braunem Glas. Anna ergriff die Phiole, entkorkte sie hastig und nahm einen kräftigen Schluck.
»Das Theriak meiner Mutter. Es wirkt beruhigend. Das habe ich jetzt bitter nötig«, seufzte sie und schenkte Borndörfer ein tapferes Lächeln. »So, es geht mir schon wieder etwas besser.«
Dann fragte sie in nachdenklichem Tonfall: »Diese Betschwester, wie Ihr sie nennt – könnt Ihr Euch an die Frau noch erinnern? Ich meine, würdet Ihr sie wiedererkennen?«
Der Lohgerber zögerte und erwiderte unsicher: »Na ja, ich weiß nicht so recht … Andererseits, dieses spitze Gesichtchen mit den dunklen Augenhöhlen, so sieht ja nicht jede aus. Aber ich habe sie schon länger nicht mehr gesehen, diese Frau.«
»Folgt mir bitte«, forderte Anna ihn auf und schritt hinaus in die Eingangshalle. Die hohen, holzgetäfelten Wände wurden von einer langen Ahnengalerie geziert. Am Ende der Reihe befand sich ein Gemälde, das mit einem schwarzen Tuch verhängt war. Anna trat an das Bild heran und riss mit einem kräftigen Ruck den Stoff herunter.
»Anna, was unterstehst du dich!«, war plötzlich aus dem Hintergrund die vorwurfsvolle Stimme ihrer Mutter zu vernehmen, die gerade die Treppe herunterkam. »Wie pietätlos von dir! Erst wenn das Trauerjahr vorbei ist …«
»Mutter, bitte lass mich! Ich weiß sehr wohl, was ich tue«, entgegnete Anna entschieden. Das Porträt ihrer verstorbenen Schwester Mechthild, das von einem prunkvollen Goldrahmen umgeben war, hatte der Vater bei Mechthilds Rückkehr nach den Wirren der Pest anfertigen lassen, aus Freude und Dankbarkeit. Auch wenn der Künstler sich bemüht hatte, das Konterfei der Patriziertochter vorteilhaft zu
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