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Das Geheimnis der versteinerten Traeume

Das Geheimnis der versteinerten Traeume

Titel: Das Geheimnis der versteinerten Traeume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Fenster blickte, war der Nordturm mit seiner charakteristischen großen Antenne schon sehr nahe. Die Maschine würde in die Mitte des Gebäudes einschlagen. War das historisch korrekt? Hatte der erste der beiden Todesjets den Turm nicht viel höher getroffen? Leo lachte hysterisch. Dass er sich solche Fragen überhaupt stellte!
    Er ballte die Hände zu Fäusten. Das Gebäude kam jetzt rasend schnell näher. Er sah die erschrockenen Gesichter der Menschen hinter den Fenstern …
    Plötzlich veränderte sich die Form des Wolkenkratzers. Das riesige, über fünfhundert Meter hohe Bauwerk verbog sich wie eine Salsatänzerin und das Flugzeug schoss ungebremst an der dadurch entstandenen »Hüftbeuge« vorbei.
    »Ja!«, stieß Leo hervor und schüttelte triumphierend die Faust. Das hatte zwar Kraft gekostet, doch wenigstens …
    Unvermittelt heulten die Triebwerke auf. Das Flugzeug neigte sich erneut.
    Entsetzt starrte Leo seinen Nachbarn an. Durch das extreme Manöver schwenkte der Totenschädel des Copiloten herum und grinste dem fünfzehnjährigen Flugkapitän jetzt direkt ins Gesicht.
    Der Zuwachs an Schubkraft ließ die 767 wieder steigen. Nach einer kompletten Wende steuerte sie abermals auf das World Trade Center zu. Diesmal hatte sie sich offenbar den südlichen der Zwillingstürme ausgesucht.
    Leo stöhnte. Seinen Traum zu verändern hatte ihn mehr ausgelaugt
als gewöhnlich. Zornig starrte er den nahenden Glas-Beton-Stahl-Riesen an, als wollte er ihn hypnotisieren. In gewisser Hinsicht traf das ja auch zu. Leo war klar, dass er seine letzten Reserven mobilisieren musste, wollte er erneut ins Geschehen eingreifen.
    Im Näherkommen schien sich das Gebäude aufzublähen. Wieder erblickte er Menschen in ihren Büros, die Augen in Todesangst aufgerissen. Kurz vor dem Einschlag bog sich der Südturm wie ein Limbotänzer nach hinten und das Flugzeug donnerte darüber hinweg.
    Kaum hatte es das Hochhaus verfehlt, setzte es auch schon zur nächsten Wende an.
    »Jetzt reicht’s aber!«, brüllte Leo. Seine Hände zitterten. Er kam sich vor wie ein Akku, dem die Traumenergie ausging. Wütend zerrte er am Steuerhorn, schob und zog an den Schubhebeln, doch die Maschine blieb unkontrollierbar. Sein Geist hörte auf, zwischen Wirklichkeit und Traum zu unterscheiden.
    Leo hörte das Heulen der Triebwerke und spürte das Vibrieren, als das Flugzeug bei dem Gewaltmanöver an die Grenzen der Belastbarkeit geführt wurde. Es beendete die Wende und nahm wieder den Nordturm ins Visier. Die Leute in den Gebäuden, die das Verhängnis auf sich zukommen sahen und nichts dagegen tun konnten, taten ihm unendlich leid. Tränen schossen ihm in die Augen. Er blickte verzweifelt nach rechts. »Grins nicht so blöd!«, fauchte er den Totenkopf an.
    Das Flugzeug steuerte jetzt auf die oberen Stockwerke des Nordturms zu. Leo biss die Zähne zusammen, sammelte Kraft.
    Der Wolkenratzer fing an zu zittern. Scheiben zersprangen. Ein Glitzerregen aus Glassplittern ergoss sich in die Luft.
    Dann schlug die Maschine in das Gebäude ein.
    Die Explosion war unbeschreiblich. Leo schrie, als die Hitze
ihn zu verdampfen drohte. Doch das geschah nicht. Er stand ruhig in einem Feuerball, der alles um ihn herum auflöste, nur nicht ihn, den Piloten des Todesflugs.
    Unversehens stiegen Bilder aus dem flammenden Inferno auf. Sie prasselten förmlich auf ihn ein wie glühende Geschosse. Er sah den Zusammensturz der Zwillingstürme, umherfliegende Körperteile von Barbiepuppen, Männer, die mit Knüppeln auf Robbenbabys einschlugen, einen Schwarm von Wetterhähnen, Okumus mit dem Unterleib eines Fauns, tote Klassenkameraden, deren Körper mit Heroinspritzen gespickt waren, Tausende Seejungfern in einem Schleppnetz, Benno mit einem Bauch wie ein Fesselballon vor einer langen Reihe von Tellern mit Linsen, Spätzle und Saitenwürstchen …
    Leo brüllte wie am Spieß. Die schrecklichen Bilder kamen immer schneller, verwandelten sich in ein Gewitter des Grauens, bis er nur noch ein stroboskopisches Flackern sah. Er hatte das Gefühl, jemand pumpe ihm mit Hochdruck Traummüll in den Schädel und blähe diesen unaufhaltsam auf, um ihn zum Platzen zu bringen.
    Steig aus, ehe es zu spät ist! , hallte es durch seinen Kopf.
    Instinktiv begriff er, dass sein Verstand diesem Bombardement nicht lange standhalten konnte. Sein Geist würde im Feuersturm der Traumbilder verglühen, und was danach übrig bliebe, wäre kaum mehr als ein nutzloser Körper. Es war der nackte

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