Das Geheimnis der versteinerten Traeume
Instrumentenkonsole und rüttelte den ersten Offizier an der Schulter. Der knapp sechzigjährige Mann war eiskalt und sank noch tiefer in sich zusammen. Hatte er eben auch schon grau melierte Haare gehabt?
»Verlier jetzt nur nicht die Nerven«, beschwor Leo sich selbst. »Ich muss nur ein Flugzeug runterbringen, das wahrscheinlich vollbesetzt mit Passagieren ist. Das kriege ich hin.«
»… haben einige Maschinen«, warnte gerade der Fluglose. »Fliegen Sie so weiter und alles ist okay. Wir bringen Sie zum Flughafen zurück.«
Der Jet neigte sich um die Längsachse. Er wechselte den Kurs.
»Ich tu doch gar nichts«, knirschte Leo. Sein Blick fiel auf einen bedruckten Papierstreifen, der auf Augenhöhe an der Mittelkonsole hing. Darauf standen die Flugnummer »AA 11« und andere Daten. Wenn er die Abkürzungen richtig deutete, befand er sich also seit 7.45 Uhr auf dem Weg vom Bostoner Logan
Airport nach Los Angeles. Als er das Datum las, bekam er eine Gänsehaut.
11. September 2001
Leo besaß kaum eigene Erinnerungen an diesen Tag, der die Geschichte in ein Vorher und Nachher teilte. Er war gerade fünf gewesen, als auf allen Fernsehkanälen ständig die Bilder von den zwei Passagierflugzeugen gezeigt wurden, die wie in einer Endlosschleife immer wieder in die beiden Türme des New Yorker World Trade Centers rasten. Nur die betroffenen Mienen seiner Eltern und die gedrückte Stimmung zu Hause hatten sich in sein Gedächtnis eingebrannt. Er blickte an dem eingefallenen Gesicht des schlohweißen, ungefähr neunzigjährigen Copiloten vorbei durchs Fenster hinaus.
Vor ihm lag die Skyline von New York mit den Zwillingstürmen, die damals in sich zusammengestürzt waren. Leo konnte sich denken, warum die Maschine eine Kurve flog. Er ahnte, dass er in einem Albtraum gefangen war.
»Keiner bewegt sich!«, drang eine aufgeregte Stimme aus dem Kopfhörer. »Alles kommt in Ordnung. Wenn Sie versuchen, die Richtung zu ändern, gefährden Sie sich und das Flugzeug. Bleiben Sie auf Kurs!«
»Von wegen!«, knurrte Leo und packte das Steuerhorn. Er musste die Katastrophe irgendwie verhindern. Mehr als zweitausendachthundert Menschen waren durch den Terroranschlag auf das World Trade Center ums Leben gekommen. Nicht einmal im Traum dachte er daran, so unermessliches Grauen zu verursachen.
Sosehr er jedoch an der Steuervorrichtung zerrte, sie bewegte sich um keinen Millimeter. Vielleicht war der Autopilot eingeschaltet.
Er versuchte sich an den Flugsimulator zu erinnern. Wie stellte man die Computersteuerung bei einer Boeing 767 ab? Richtig! Links oben an der Steuereinheit war ein Schalter.
So viel Leo auch daran herumdrückte und -schob, das Ding rührte sich genauso wenig wie das Steuerhorn.
»Verdammt!«, schrie er. »Wachen Sie endlich auf und helfen Sie …!« Ihm blieb das Wort im Halse stecken, als er nach rechts blickte. Der erste Offizier sah aus wie eine viertausend Jahre alte ägyptische Mumie, die man soeben ausgewickelt und in eine Pilotenkluft gesteckt hatte. Von dem Mann war wohl keine Unterstützung mehr zu erwarten.
Inzwischen steuerte das Flugzeug direkt auf den Nordturm des Welthandelszentrums zu. Leo meinte, Schreie hinter sich zu hören, Passagiere in Todesangst. Warum war das Ganze so real? Er legte seine Hand auf die Schubhebel für die beiden Triebwerke. Vielleicht konnte er die Geschwindigkeit drosseln und im Hudson River notwassern. Würde er das schaffen?
Die Frage erübrigte sich, weil die zwei Hebel auf der Mittelkonsole wie festgewachsen waren. Sämtliche Steuerinstrumente schienen wie aus Stein gemeißelt und nur wie richtige Armaturen auszusehen. Lediglich die Anzeigen bewegten sich. Ihnen zufolge sank die Boeing stetig und raste mit 382 Knoten auf den Wolkenkratzer zu.
Leo sah seinen ersten Offizier an. Der hatte sich zwischenzeitlich in ein Skelett verwandelt. Das Pilotenhemd war nach wie vor schneeweiß, ordentlich gestärkt und perfekt gebügelt. Leo schloss die Augen und ließ den Kopf an die Sitzlehne sinken. »Ein Höllenritt mit über 700 Stundenkilometern und ich kann nichts dagegen tun.« War es nicht das Beste, sich aus diesem Albtraum zurückzuziehen? Wenigstens darin besaß er ja Erfahrung.
Irgendetwas veranlasste ihn zu zögern. Es war nur ein vages Gefühl, das ihm empfahl, sich gegen das scheinbar Unabänderliche anzustemmen. Wenn er am Flugzeug nichts verändern konnte, dann vielleicht an etwas anderem. Er sammelte seinen Willen.
Als er wieder durchs vordere
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