Das Geheimnis der versteinerten Traeume
Seite.
»Die Spalte ist neu«, sagte Orla. Ihre Miene verriet Besorgnis.
Leo erinnerte sich an das, was sie über Inseln erzählt hatte, die wie trockene Kuchen zerbröselten. »Glaubst du, es hat was mit der Vergeudung der Traumenergie zu tun?«
»Na, was denkst du denn. Zul schottet sein Reich rücksichtslos von der Außenwelt ab. Alles Neuland, das er aus den ungeträumten Träumen gewonnen hat, wird dadurch mürbe. Er lässt es lieber zerfallen, als es mit anderen zu teilen. Kommt, lasst uns rüberfliegen.« Sie stieg wie schon zuvor ein Stück nach oben und flog auf die andere Seite zu. Dazu musste sie nicht einmal die Faust ausstrecken oder ein Bein anwinkeln wie Supergirl. Aufrecht, so als stehe sie auf einer Hebebühne, schwebte sie durch die Luft. Der Hellebardenschaft ruhte in ihrer Halsbeuge. »Was ist?«, rief sie. »Braucht ihr eine Extraeinladung?«
»Sieht eigentlich kinderleicht aus«, sagte Benno.
»Ich weiß nicht«, brummte Leo. Ihm war nicht wohl bei dem
Gedanken, sich ohne Klartraum über die Schlucht hinauszuwagen.
»Einfach ans Fliegen denken, der Rest kommt von allein«, empfahl Orla von gegenüber.
Unversehens erhob sich Benno vom Boden. Er quietschte erschrocken. Einen Moment lang schaukelte er in der Luft wie ein in Turbulenzen geratener Wetterballon. Dann schwebte er auf den Abgrund hinaus. »Guckt mal, ich fliege! Das macht Spaß!«, rief er begeistert.
»Ja, wie eine rothaarige Hummel«, knurrte Leo. Er wollte sich von seinem Freund nicht den Schneid abkaufen lassen. Nicht vor dem schönsten Mädchen, das jemals seine Hand gehalten hatte. Außerdem drängte sich der Vergleich mit den pummeligen Pollensammlern tatsächlich auf, sowohl figürlich als auch vom taumelnden Flugstil mit den plump herabhängenden Armen und Beinen her.
»Sehr gut, Kowalski!«, rief Orla. »Und jetzt du, Leo.«
Unwirsch blickte er in den Abgrund. Benno will dich ausstechen, dachte er. Beeindrucke das Mädchen mit deiner Körperbeherrschung. »Ich gehe lieber zu Fuß«, antwortete er und lief auf den schmalen Grat zu. Als Skater fehlte es ihm weder am nötigen Gleichgewichtssinn, noch schreckte ihn die Höhe.
Als er die Brücke erreichte, wurde ihm doch etwas mulmig. Sie kam ihm wie die Schneide eines Säbels vor. Für einen Rückzieher war es jedoch zu spät. Das wäre zu blamabel. Er biss die Zähne zusammen und breitete die Arme aus. Der erste Schritt ist immer der schwerste. Vorsichtig setzte er den rechten Fuß auf den Felsenbogen.
Irgendetwas stimmte nicht an dem alten Sprichwort. Je weiter er auf die Schlucht hinausbalancierte, desto schwerer wurden seine Beine. Der Rotschopf und das Mädchen standen auf der
anderen Seite im Schatten einer Kiefer und beobachteten ihn gespannt. Nur nicht stehen bleiben! , ermahnte sich Leo. Bis zur Hälfte kam er leidlich voran. Dann bildete sich vor ihm ein Riss im Boden.
»Warum immer ich!«, stöhnte er. Einige Steine lösten sich und fielen in den dunklen Schlund.
Benno schrie erschrocken auf.
»Weil du dich nicht unter Kontrolle hast«, antwortete Orla. Sie stieß die Hellebarde mit der Spitze voraus ins Erdreich und sprang von der Kante des Abgrunds. Leo hielt den Atem an, während er ihren Sturz in die Tiefe verfolgte. Kurz vor dem Grund des Spalts bremste Orla ihren freien Fall ab und landete sanft.
Aus dem Riss war mittlerweile eine klaffende Lücke geworden.
Leo blickte hinter sich. Da löste sich der Überweg ebenfalls auf. Er fasste sich ein Herz und lief weiter. Nach nur zwei Schritten hallte erneut Bennos Stimme über die Schlucht.
»Pass auf!«
Leo hielt sofort inne. Vor ihm stürzte ein langes Stück der Brücke in den Abgrund, zu viel, um mit einem Sprung auf die andere Seite überzusetzen. Der Fels, auf dem er stand, ruckte eine Handbreit nach unten. Er ruderte mit den Armen, um nicht die Balance zu verlieren. Gleich würde er abstürzen. Ängstlich tat er, wovon erfahrene Bergführer immer abrieten: Er blickte in die Tiefe.
Und traute seinen Augen nicht.
Orla war nicht mehr zu sehen, weil von allen Seiten der Schlucht Steine und Felsbrocken herbeikollerten. Heftig staubend türmten sie sich aufeinander und wuchsen rasend schnell nach oben. Leider nicht rasch genug. Ehe der Damm den morschen Übergang abstützen konnte, brach dieser entzwei.
Leo brüllte und fiel.
Ungefähr einen Meter tief. Auf allen vieren landete er im Geröll, verschluckte sich am Staub und bekam einen Hustenanfall. Wankend richtete er sich auf.
Plötzlich
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