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Das Geheimnis Des Amuletts

Das Geheimnis Des Amuletts

Titel: Das Geheimnis Des Amuletts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gillian Shields
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ersten Mal konnte ich mir vorstellen, dass mein Leben ganz anders war als das der anderen und dass ich eines Tages frei sein würde. Ich war hin und her gerissen zwischen dem Wunsch, immer im Wald zu bleiben und zurück ins Heim zu gehen, um Tom am nächsten Morgen beim Frühstück zu sehen und ein heimliches Lächeln mit ihm zu tauschen, das ihm verraten würde, dass ich »ihre« Grenzen überschritten hatte. Es war wie ein Ehrenabzeichen, um zu beweisen, dass mich nichts zerbrechen konnte, nicht einmal die feindselige Belegschaft an diesem Ort. Ich hatte dem Wanderer von meiner Gabe erzählt und wie ich mich in der Nacht aus dem Heim schleichen konnte, und obwohl ich niemals erkennen konnte, ob er mir wirklich glaubte, lachte er nicht und hielt mich auch nicht für verrückt. Die einzige Freundlichkeit, die ich im Heim jemals erlebte, kam von ihm. Er war der Stein in meiner Tasche, etwas, an dem ich mich festhalten konnte, und ich ging davon aus, dass er immer da sein würde.
    Ich hatte mich geirrt.
    In jener Nacht schlief ich im Wald ein, mit dem Rücken an einen Baum gelehnt. Als ich die Augen wieder öffnete, war es bereits hell. Es war immer noch früh, aber die Stadt erwachte bereits. Ich sprang auf – ich musste rechtzeitig wieder zurück sein, bevor jemand merkte, dass ich mich weggeschlichen hatte. Dann versuchte ich, wieder in die Luft zu treten. Nichts geschah. Ich geriet in Panik, denn ich befürchtete, dass ich das Einzige verloren hatte, worin ich gut war und das wirklich mir gehörte. Ich wusste damals nicht, dass es einfach nur schwerer ist, bei Tageslicht über die geheimen Pfade zu reisen, dass man mehr Konzentration und Vertrauen in die inneren Kräfte benötigt. Und so lief ich blindlings davon, bis mein Herz schmerzte und ich Seitenstechen bekam. Ich lief den ganzen Weg zurück zum Waisenhaus. Die Türen und Tore waren verschlossen. Ich kletterte über die Mauer, schürfte mir die Knie auf und rannte um das Gebäude herum nach hinten, wo ich bei der Küchentür ein Fenster einschlug und ins Innere kroch.
    Ich schaffte es rechtzeitig in mein Zimmer, aber später an diesem Tag wurde das zerbrochene Fenster bemerkt, und es gab ein schreckliches Donnerwetter. Dr. Franzen war nur zu glücklich, deswegen einen gewaltigen Sturm entfesseln zu können und sich wieder und wieder mit seiner aalglatten Stimme über Disziplin und Respekt vor dem Eigentum und straffällige Kinder, die außer Kontrolle waren, auslassen zu können. Jemand musste gestehen, dass er für den Schaden verantwortlich war, und dafür bestraft werden, und er, Dr. Franzen, würde den ganzen Tag warten, bis es jemand tat … gerade, als ich vortreten wollte, sprach der Wanderer und nahm die Schuld an meiner Stelle auf sich. Dr. Franzen schleppte ihn in den Keller, bevor ich meine Stimme fand und die Wahrheit gestehen konnte. Ich erinnere mich, dass Tom sich umdrehte und mich anlächelte, als er weggezerrt wurde. Aber später, wann immer ich versuchte, ihn mir vorzustellen, sah ich nur eine verzerrte Version seines Gesichts, wie ein surreales Gemälde: von Blutergüssen und Prellungen übersät und voller Blutspritzer.
    Er tauchte am nächsten Tag nicht beim Frühstück auf und auch nicht an dem danach. Die Belegschaft sagte schließlich, er wäre zu einer Pflegefamilie geschickt worden. Die anderen Kinder flüsterten sich andere Geschichten über den Wanderer zu. Dass er so schlimm geschlagen worden wäre, dass er kaum noch hätte stehen können. Dass er entkommen war und es geschafft hatte, ins Krankenhaus der Stadt zu stolpern. Dass er in ein anderes Waisenhaus überwiesen worden war, das ebenfalls Dr. Franzens Leitung unterstand. Dass seine Leiche auf der örtlichen Müllkippe gefunden worden wäre. Sie erzählten so viele Geschichten, und ich bekam nie heraus, welche davon stimmte. Ich wusste nur, dass ich den Jungen, den sie den Wanderer genannt hatten, niemals wiedersah.
    War es Dr. Franzens Fehler gewesen – oder meiner?
    Ich wurde von der Angst gequält, dass mein einziger Freund tot sein könnte, auch wenn ich versuchte, daran zu glauben, dass er eines Tages wiederkommen würde. Ich sehnte mich danach zu glauben, dass er wieder auftauchen würde. Aber bald darauf kam meine Mutter und brachte mich nach Wyldcliffe. Ich dachte, es wäre ein neues Leben, aber es stellte sich heraus, dass es nur ein anderer Teil des gleichen Alptraums war. Der einzige Trost, den ich in Wyldcliffe fand, waren Kunst und Poesie und die Möglichkeit,

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