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Das Geheimnis Des Amuletts

Das Geheimnis Des Amuletts

Titel: Das Geheimnis Des Amuletts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gillian Shields
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alles, woran ich denken kann, bist du, mein Wanderer, und was geschehen ist, als ich dich das letzte Mal gesehen habe – und ihn. Die Prellungen in deinem Gesicht … das Blut auf deinen Lippen … alptraumhafte Visionen, die ich zu vergessen versucht habe. Aber es ist alles noch da, so klar und scharf wie ein Messer.
    Wanderer, Dr. Franzen ist hier.
    Mir wird elend, wenn ich nur seinen Namen schreibe. Wie kann ich jetzt noch eine Minute länger an diesem Ort bleiben? Vielleicht lässt Tony mich bei sich und Rachel leben, wenn ich weglaufe.
    Nein. Ich darf ihr Leben nicht wieder mit meiner Anwesenheit beflecken. Ich muss mich von allen fernhalten, die mir etwas bedeuten. Von dir, von Laura, von meinen Freunden – ich scheine alle in Ärger und Dunkelheit zu führen.
    Erinnerungen flüstern und fluchen,
Ziehen mich zurück zu den dunklen, fernen Tagen;
Und die Bäume wehen im Wind,
Werfen Gedanken wie Blätter
Auf die feuchte, schwarze Erde.
Zerrissene Blütenblätter fallen auf dein Grab.
    Sarah und Evie sind gestern wieder hergekommen, um nach mir zu sehen, und diesmal hat die Krankenschwester sie hereingelassen. Sie wollten unbedingt wissen, was meinen Zusammenbruch verursacht hat. Ich habe ihnen gesagt, dass Dr. Franzen ein »Bildungsexperte« wäre, der das Kinderheim geleitet hätte, und dass ich, als ich ihn gesehen habe, einfach nur von Erinnerungen überwältigt worden bin. Er war anmaßend, ziemlich streng und altmodisch, sagte ich ihnen. Ich konnte ihnen nicht sagen, dass er ein gewalttätiges Ungeheuer ist. Aber er wird hier auch nicht tun können, was er im Waisenhaus getan hat, nicht bei diesen privilegierten jungen Damen. Er hat seine Opfer sorgfältig gewählt. Er hat mich gewählt.
    Ich bin nie in der Lage gewesen, mich wirklich mit meiner Vergangenheit auseinanderzusetzen, nicht richtig. Ich habe meinen Freundinnen einmal erzählt, dass die Leute im Waisenhaus versucht hätten, nett zu sein. Nett! Sie waren Wilde, Unmenschen, und diejenigen, von denen man hätte Hilfe erwarten können, haben alles unter den Teppich gekehrt. Die Schläge, die Bestrafungen, die Entwürdigungen und Demütigungen, die unausgesprochene Angst vor den noch größeren Qualen, die sie einem auferlegen konnten. Die Menschen, die eigentlich für uns hätten sorgen sollen, behandelten uns wie Dreck, und niemand wusste es oder kümmerte sich darum, und er war der Schlimmste. Aber es sind die Opfer, die mit Scham und Zweifeln und Selbsthass zurückbleiben, nicht die Täter. Ich konnte nie mit jemandem darüber sprechen.
    Es war die Angst davor, zu alldem zurückkehren zu müssen, weshalb ich in Wyldcliffe geblieben bin. Sogar, nachdem meine Mutter sich nach den schrecklichen Ereignissen im Zusammenhang mit Lauras Tod gegen mich gewandt hat. Und jetzt ist er hier, er ist in mein Leben zurückgekehrt. Ich weiß nicht, wie ich das ertragen soll. Oh, Wanderer, mein ältester, treuester Freund, hilf mir. Hilf mir.
    Als ich sah, wie Dr. Franzen den Speisesaal von Wyldcliffe betrat – sich auf seinen Stock stützend –, und als ich seine Stimme hörte, kam es mir so vor, als wäre alles andere aus meiner Erinnerung wie weggewischt. Ich war nicht mehr Helen, eine Schwester des Mystischen Weges, die sich aufgemacht hatte, dem Geist ihrer Mutter Heilung und Frieden zu bringen. Ich war wieder ein zu Tode erschrecktes Kind, das um Hilfe bettelte. Ich wurde in den Keller des Kinderheims geschickt, wurde in den winzigen, fensterlosen Raum gesperrt, den sie benutzten, um jemanden für »unakzeptables Verhalten« zu bestrafen, ohne etwas zu essen oder zu trinken zu bekommen und ohne Licht oder Wärme. Wie viele Male war ich nach dort unten geschickt worden, hatte Stunden im Elend gesessen, ohne zu wissen, was mit mir passieren würde. Und das war das Schlimmste überhaupt gewesen – dass ich nicht wusste, ob ich nach den Stunden der Isolation einfach rausgelassen oder geschlagen wurde oder …
    Es war ein Wunder, als ich herausfand, dass ich mit der Kraft meiner Gedanken von diesem Ort fliehen konnte. Zuerst kam es mir einfach nur wie wilde Tagträume und Phantasien vor, aber das änderte sich bald. Ich konnte mich wirklich durch die Luft in die Seitenstraßen der Stadt befördern oder an die Ufer des Kanals oder in die armseligen, nicht beachteten Wälder bringen, die sich jenseits des Stadtrands erstreckten.
    Es war in diesem schrecklichen Keller, wo mein einziger Freund die letzten Schläge für mich auf sich nahm. Er hätte es nicht tun

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