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Das Geheimnis Des Amuletts

Das Geheimnis Des Amuletts

Titel: Das Geheimnis Des Amuletts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gillian Shields
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sollen. Ich wäre damit klargekommen. Es war schließlich nur ein weiteres Mal. Aber all die Jahre später, in der Abteischule Wyldcliffe für Junge Ladys, fegte meine Vergangenheit ins Leben zurück wie ein blendender Sturm, als Dr. Franzens Blick durch den Saal glitt.
    Meine Vergangenheit. Hier ist sie.
    Jahrelang hatte ich nichts anderes gekannt als das Kinderheim: Angst und Elend und Dr. Franzen. Er hatte mir beigebracht, dass ich eine Schande war, unerwünscht, hoffnungslos, nutzlos, dumm, ungehorsam, und dass es insgesamt besser gewesen wäre, ich wäre gar nicht erst geboren worden. Aber dann kam ein Junge zu uns, betrat meine Welt und ließ mich zum ersten Mal begreifen, was Hoffnung war.
    Die anderen Kinder im Heim gaben ihm den Spitznamen »der Wanderer«, weil er sich offenbar nie irgendwo länger niederlassen konnte, oder besser, er war immer bereit für ein nächstes Abenteuer, ein nächstes Verschwinden. Wanderer passte besser zu ihm als Tom, sein richtiger Name. Er war nie wirklich ein Tom für mich – er war weit wagemutiger und flüchtiger als das. Ich sah ihn als einen freien Geist, der in die Welt geweht worden war, damit er dort über die wilden Plätze tanzen und über alles lachen konnte, das ihm im Weg war. Und so lernte ich, ihn Wanderer zu nennen, wie alle anderen auch.
    Als er in das Heim kam, muss ich etwa elf gewesen sein, und er war ein bisschen älter, etwa zwölf oder dreizehn. Wir waren nur Kinder, aber ich wusste, kaum dass ich ihn sah, dass er anders war. Da war ein Licht in ihm, eine verborgene Freude. Dass er keine eigene Familie hatte, schien ihn nicht zu bekümmern. Er gehörte überallhin und nirgendwohin und zuckte einfach nur jedes Mal mit den Schultern, wenn er wieder einer Pflegefamilie übergeben wurde. Seltsamerweise wählten sie immer den Wanderer aus, obwohl er keinerlei Anstalten machte, ihnen besonders zu gefallen. Niemand hatte jemals mich gewählt, was mich auch nicht sonderlich überraschte. Ich erwartete nichts Gutes vom Leben und erhielt daher auch nichts Gutes. Aber dieser Junge war anders. Er atmete eine andere Luft, und er zuckte einfach mit einem noch breiteren Lächeln mit den Schultern, wenn es mit der Pflegefamilie nicht geklappt hatte und er ins Waisenhaus zurückgebracht wurde.
    Der Wanderer interessierte sich nicht für die Schikanen und Statuskämpfe und Hierarchien, die die anderen Kinder beschäftigten, indem jedes einzelne das bisschen an Gebiet verteidigte, das es besaß, bevor irgendjemand es ihm wegnehmen konnte. Ich allerdings war in ihrem Kreuzfeuer gefangen. Sie hielten mich für langsam und dumm, und sie sorgten dafür, dass ich jedes Mal die Schuld zugewiesen bekam, wenn etwas falschlief. Nicht alle bekamen den Zorn oder die Schläge des Stockes von Dr. Franzen zu spüren, nur ein paar Besondere wie ich. Ich konnte mich ihm gegenüber nicht verteidigen. Ich hatte weder Freunde noch Verbündete. Aber Tom – mein Wanderer – sah etwas Wertvolles in mir. In der kurzen Zeit, die wir miteinander verbrachten, sprach er mit mir und brachte mich zum Lächeln und sang Lieder für mich. In diesen flüchtigen Momenten legte er Musik statt Furcht in mein Herz. Er brachte mir bei zu singen, und er erzählte mir Geschichten von all den wundervollen Dingen, die wir beide tun würden, wenn wir erst erwachsen und nicht mehr an diesem Ort sein würden. Er gab mir Hoffnung und sorgte dafür, dass ich bei Verstand blieb. Ich schätze, ich habe ihn jedes Jahr nur ein paar Wochen gesehen, aber es waren Ferien für mich, wenn der Wanderer kam und Licht und Lachen in meine wütende, trostlose Existenz brachte. Seltsamerweise erinnere ich mich, dass er jedes Mal ein bisschen anders aussah, als hätten meine Augen immer wieder aufs Neue lernen müssen, sich auf ihn zu konzentrieren und ihn zu sehen, auch wenn ich mir sagte, dass er einfach nur etwas älter geworden war.
    Und dann, als ich älter war und anfing, die Welt in einem neuen Licht zu sehen, kam alles zu einem schrecklichen Ende. War es mein Fehler oder der von Dr. Franzen?
    Nach einem besonders furchtbaren Tag im Heim gelang es mir in der Nacht, unbemerkt aus meinem Zimmer zu verschwinden, indem ich meine geheime Gabe benutzte. Ich lag draußen in den Wäldern, und obwohl mir ziemlich kalt war, war ich froh, dort zu sein. Ich sah die Sterne über mir und lauschte den Stimmen des Windes und sang leise. Die Lichter der Stadt leuchteten in einem gedämpften, schmutzigen Orange unterhalb von mir, und zum

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