Das Geheimnis Des Amuletts
war Dr. Franzens Entscheidung, den Ball abzusagen, der zu Weihnachten mit den Jungen von der St. Martin’s Academy stattfinden sollte. Dieser Ball hatte das Ereignis werden sollen – im eigens dafür geöffneten gespenstischen viktorianischen Ballsaal von Wyldcliffe, der sich bei dieser Gelegenheit erneut mit jungen Leuten und ihrem Lachen gefüllt hätte. Stattdessen sollte im Dezember ein Konzert stattfinden, in der Nacht der Gedenkprozession, bei der entsprechend dem Willen von Lord Charles Templeton die Gebete für seine Tochter Agnes gesprochen werden würden. Diese Tradition bestand schon seit langem, und dieses Jahr, so ließ Dr. Franzen verkünden, wurde von allen Schülerinnen erwartet, dass sie im Chor sangen oder in einem klassischen Musikorchester ein Instrument spielten. Ich war bereit, Agnes’ Andenken in jeder Weise zu ehren, aber das Konzert, das Dr. Franzen da ankündigte, klang ehrlich gesagt langweilig und altmodisch – nach dem typischen, schrecklichen Wyldcliffe.
Ich war enttäuscht, was den Tanz betraf, aber es brach mir nicht das Herz. So viele gute Ideen, die Miss Scratton während der kurzen Zeit als Schulleiterin umgesetzt hatte, waren wieder zurückgenommen worden, und jetzt, da sie weg war, konnte ich mir nicht vorstellen, dass Cal oder Josh, die keine »Herren« von St. Martin’s waren, jemals bei einem Ball in Wyldcliffe willkommen gewesen wären. Abgesehen davon waren wir mit dem ewigen Tanz von Gut und Böse beschäftigt und nicht mit Partys und Prominenz. Laura war jetzt unsere wichtigste Aufgabe, und als der Samstagnachmittag kam, machten wir uns mit großen Hoffnungen auf den Weg nach Uppercliffe.
Uppercliffe war ein abgelegener Bauernhof in den Moors , der sich neugierigen Blicken entzog. Mittlerweile war das kleine Haus baufällig und verlassen, aber Agnes hatte hier einmal verborgen vor der Welt gelebt, nachdem sie mit ihrem Kind, Evies Ururgroßmutter, von London zurückgekehrt war. Es war für uns alle ein besonderer Ort, an dem die Vergangenheit nachhallte.
Evie und ich ritten auf meinen Ponys Starlight und Bonny dorthin. Wir trafen Josh und Cal im Dorf, um nicht in der Schule die Aufmerksamkeit der Tratschtanten auf uns zu ziehen. Die beiden warteten mit ihren Pferden vor der Dorfhalle, in der gelegentlich Versammlungen abgehalten wurden und wo die in dieser Gegend lebenden Mütter jedes Jahr zu Weihnachten eine Feier für die Kinder organisierten. Helen ritt nicht mit uns. Sie würde auf ihre eigene Weise in Uppercliffe ankommen.
Wir trabten gemächlich die Hauptstraße entlang und ließen das Dorf und die Bauernhäuschen hinter uns. Es war ein schöner Herbsttag, und das Farnkraut in den Moors leuchtete wie ein glühender Teppich aus Feuer. Schon bald konnten wir im leichten Galopp über die Hügel reiten, und es dauerte nicht lange, bis die vom Wind mitgenommenen Überreste des alten Hofes in Sicht kamen. Es war kalt und dunkel in dem verlassenen Gebäude. Mäuse raschelten in der Ecke, und die Dielenbretter waren verrottet, so dass die üppige, torfige Erde darunter zum Vorschein kam.
Wir unterhielten uns leise, während wir warteten, bis die Luft an einer Stelle zu wirbeln begann und dichter zu werden schien. Ein silberner Dunst entstand. Ich spürte das Vibrieren einer leisen, verborgenen Musik, und dann tauchte Helen aus dem Dunst auf. Wir hatten schon oft zugesehen, wenn sie dies tat, und trotzdem war es jedes Mal erstaunlich.
Während Helen wieder zu Atem kam, fiel mir die deutliche Röte auf ihren normalerweise blassen Wangen auf, und ich bemerkte, dass ihre Augen funkelten. Es war ihr kaum anzumerken, dass sie die Anwesenheit der Jungen wahrnahm.
»Ziehen wir den Kreis«, sagte sie ohne große Umschweife. »Laura ist irgendwo zwischen Leben und Tod verborgen. Wir müssen sie beim nächsten Neumond unter dem Auge der Zeit finden.«
»Woher weißt du das mit dem ›Auge der Zeit‹?«, fragte Evie.
»Ich weiß es einfach.«
Evie warf mir einen Blick zu und zuckte leicht mit den Schultern. Eine unausgesprochene Botschaft lag darin: Was sollen wir jetzt tun? Ich mache mir solche Sorgen um Helen …
»Ich weiß es einfach!«, rief Helen. »Hört endlich auf, mich wie ein Kind zu behandeln!«
»He, Helen, niemand tut das«, sagte Josh ganz ruhig. »Wir alle wollen Laura helfen und der Priesterin einen Schlag versetzen. Alle sind bereit, dir zu folgen, aber wir möchten gern verstehen, was vor sich geht.«
»Es tut mir leid«, zwang Helen sich zu sagen.
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