Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Geheimnis Des Amuletts

Das Geheimnis Des Amuletts

Titel: Das Geheimnis Des Amuletts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gillian Shields
Vom Netzwerk:
hocharbeitete. Laura – das Auge der Zeit – und alle Gedanken an meine Mutter und meine Freunde – all das war auf einmal verschwunden. Für einen Moment hatte ich das Gefühl, als wäre er der einzige andere Mensch außer mir auf der ganzen Welt. Es gab nur ihn und mich und den Wind, der über die Hügel heulte.
    In diesen wenigen Sekunden hatte ich das Gefühl, als würde ich das Licht seines Lächelns schon seit langem kennen, und auch seinen schlanken Körper, die Künstlerhände. Sein Geist – so feinfühlend und forschend – schien meinen zu berühren wie der Flügelschlag eines Vogels. Aber ich wollte nicht so empfinden. Ich wollte gar nichts empfinden. Ich hatte mir eine Rüstung angelegt, mich in meine Einsamkeit gehüllt, und plötzlich wurde ich von diesem Fremden so seltsam angerührt. Ich sagte mir, dass ich weglaufen und verschwinden sollte, aber das konnte ich nicht. Ich wartete, dass er zu mir kam, wartete darauf, dass er meinen Namen sagte.
    Als er die Kuppe des Ridges erreichte, wirkten der Wind und der Regen und das Krachen des Donners wie die wilde Musik der uralten Götter. Der Junge sah zum Himmel hoch und lachte, und ich lachte ebenfalls, einfach nur so, aus wilder Freude darüber, ihn zu sehen. Ich konnte nicht anders – es war wie ein Wahnsinn, der über mich hinwegströmte. Und dann, schlagartig, waren wir todernst, standen einfach nur im Regen auf dem Berg und blickten einander an, als würden wir niemals genug davon bekommen, uns anzusehen und zu staunen. Ich hatte tatsächlich das überaus seltsame Gefühl, dass wir uns seit unserer letzten Begegnung viele Male unterhalten hatten. Während der Wind mir den Atem raubte, begriff ich, dass in den vergangenen Tagen stets das Wissen über seine Anwesenheit auf Wyldcliffe wie ein goldener Faden an meinem Herzen gezupft hatte, egal, was ich auch getan hatte und was sonst geschehen war.
    Schließlich lächelte er und sprach.
    »Was tust du hier draußen, Helen? Folgst du mir schon wieder?«
    »Natürlich. Bis ans Ende der Welt«, sagte ich leichthin.
    Er grinste. »Dann ist das also geklärt. Aber du wirst völlig durchnässt werden. Hier.« Er zog seine Jacke aus, warf sie über uns beide, und so rannten wir los, um unter einigen der kleineren Steine Schutz zu suchen, die im Laufe von hunderten von Jahren heruntergefallen waren und jetzt kreuz und quer aneinanderlehnten. Wir kauerten uns unter die schräg stehenden Steine, und es wirkte so natürlich, als hätten wir so etwas schon viele Male zuvor getan. Einen Moment lang vergaß ich, wieso ich überhaupt zum Ridge gekommen war, während wir uns unterhielten und lachten und dem Lied des Windes lauschten.
    Ich hatte bisher nie viel gelacht. Grübeln, mir Sorgen machen, mich einsam und ängstlich fühlen – darin bin ich ziemlich gut. Aber der Junge weckte in mir das Bedürfnis zu lachen, und das nicht, weil er etwas Witziges oder Geistreiches gesagt hätte, sondern weil in mir, sobald ich ihn ansah und in seine klaren, hellen Augen blickte, die Hoffnung zu keimen begann, das Leben könnte so leicht und süß sein wie die ersten Töne auf einer Flöte.
    »Also, was tust du wirklich hier oben in den Moors ?«, fragte er. »Müsst ihr jungen Damen nicht die ganze Zeit streng bewacht werden?«
    »Wir dürfen trotzdem gelegentlich einen Spaziergang machen. Die viktorianischen Zeiten sind vorbei.«
    »Ich habe gehört, dass Dr. Franzen das am liebsten ändern würde«, sagte er. »Er möchte wieder alles so machen, wie es früher war.«
    Ich versteifte mich, als ich den Namen Dr. Franzen hörte. Ich hatte meine Bürde für einen Moment vergessen, aber jetzt spürte ich sie wieder. »Es kümmert mich nicht, was er tut«, sagte ich. »Ich verlasse die Schule sowieso so bald wie möglich.«
    Der Junge sah mich fragend an. »Dann bist du nicht gerade begeistert von dem neuen Direktor von Wyldcliffe.«
    »Ich hasse ihn.«
    Es hatte nicht so hart klingen sollen. Der Junge lehnte sich jetzt noch näher an mich, so dass ich seinen Körper sanft an meinem spürte, und dann flüsterte er: »Vergiss nicht, dass Vergebung stärker ist als Hass.«
    Ich starrte ihn verblüfft an. Miss Scratton hatte einmal genau das Gleiche zu mir gesagt.
    »Woher – woher weißt du das?«, stammelte ich. »Was meinst du damit? Und was tust du eigentlich hier oben?« Die Leichtigkeit, die ich bisher bei ihm verspürt hatte, verschwand. Ich stand auf und wich einen Schritt vor ihm zurück. »Wer bist du?«
    Er stand jetzt

Weitere Kostenlose Bücher