Das Geheimnis Des Amuletts
eingesperrt war. Wenn wir doch nur das vollbringen konnten, was wir uns vorgenommen hatten, und in der Lage wären, Laura zu befreien. Vielleicht wäre unser Kampf gegen die Schwestern der Dunkelheit dann vorüber, und es würde wieder Friede herrschen, sagte ich mir.
Helen versuchte sogar, mit Velvet Frieden zu schließen, wenn auch mit wenig Erfolg. »Komm, setz dich zu uns, Velvet«, versuchte Helen sie eines Nachts beim Essen zu überreden. »Unterhalten wir uns ein bisschen.«
»Wozu?«
»Ich würde gern etwas Zeit mit dir verbringen.«
»Fahr zur Hölle«, fauchte Velvet. »Wieso solltet ihr auch nur das geringste Interesse daran haben, euch mit mir abzugeben? Ihr hattet eure Chance, und ihr habt sie in den Wind geschlagen.«
»Alle verdienen eine zweite Chance, Velvet«, sagte Helen ruhig. »Du wirst deine zweite Chance eines Tages bekommen, und ich glaube, du wirst sie gut nutzen.«
Velvets Miene änderte sich. »Wie meinst du das?«
»Du wirst lernen, die Kräfte zu kontrollieren, die jetzt in dir wüten. Und dann wirst du in der Lage sein, dich zu entscheiden, wie du sie nutzen willst. Wähle weise, und alles, was du dir wünschst, wird zu dir kommen. Du brauchst nur das zu tun, was Agnes gesagt hat. Öffne dein Herz. Lerne zu lieben.«
Velvet verzog die Lippen zu einem höhnischen Grinsen. »Die Liebe macht einen schwach.«
»Nein! Sag so etwas nicht.« Helen wirkte so hell und zart neben Velvets üppiger dunkler Schönheit, aber sie war von einer unterschwelligen Atmosphäre der Macht umgeben. »Du bist sehr viel mehr wert als das, sehr viel mehr. Deine Zeit wird kommen.«
»Als würde dich das wirklich interessieren.«
»Es interessiert mich«, sagte Helen im Flüsterton. »Und ich würde an dich glauben, Velvet, wenn du mich lässt.«
Velvet runzelte die Stirn und öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber dann wandte sie sich abrupt ab. Helen seufzte. Zumindest hatte sie es versucht, dachte ich, auch wenn es so ähnlich war, wie einen wilden Panther zähmen zu wollen, der kurz vor dem Sprung war.
In dieser Zeit arbeitete Velvet nicht; sie brach sämtliche Regeln und beleidigte öffentlich die Lehrerinnen, sogar Dr. Franzen. Und am Abend des Neumonds, auf den wir mit solchen Hoffnungen und Ängsten gewartet hatten, hatte sie schließlich vor der ganzen Schule einen riesigen Krach mit ihm. Nach dem Abendessen hielt er wieder einmal eine seiner langatmigen Reden, ging dabei vor der langen Reihe der Lehrerinnen, die mit ernsten Mienen dasaßen, auf und ab und ermahnte die Schülerinnen, zielstrebig zu sein und hoch hinaus zu wollen, ihr Bestes zu geben und überhaupt dem Rest der Welt ihre Überlegenheit zu zeigen. Diesmal sprach er über sein langweiliges Konzert, für das wir alle so hart üben mussten.
»Ihr glücklichen Wyldcliffe-Schülerinnen seid die Elite«, begann er mit seiner kalten, ausdruckslosen Stimme. »Und mit diesem Privileg geht Verantwortung einher. Wyldcliffe-Mädchen sollten über dem gewöhnlichen Volk stehen. Die vergänglichen, oberflächlichen Werte der Welt sind hier bedeutungslos – Unsinn wie Prominenz und Popkultur. Hier schätzen wir die Dinge, die Bestand haben. Die Schönheit altgriechischer Texte. Das intellektuelle Streben der Wissenschaften. Die Herausforderung der klassischen Musik. Musik ist in der Tat eine Art Mikrokosmos unserer Welt. Deshalb wird unser Gedenkkonzert in diesem Term ein so wichtiges Ereignis sein. Morgen Abend wird eine richtige Probe des ganzen Programms in der Ruine der Kapelle stattfinden. Sämtliche Schülerinnen und der Lehrkörper werden dort sein und sehen, wie weit unsere Arbeit uns gebracht hat und was noch getan werden muss. Am eigentlichen Abend der Gedenkprozession muss alles perfekt sein. Gemeinsam zu spielen oder zu singen erfordert Disziplin. Es erfordert die Unterordnung des Individuums unter das Ganze. Mehr als irgendwelche individuelle Persönlichkeiten seid ihr Wyldcliffe-Mädchen. Ihr tragt Uniformen wie Soldaten, um zu zeigen, dass alles, was wir hier tun, dem Wohle des Ganzen dient: ein Körper, ein Ziel, eine Identität – unser geliebtes Wyldcliffe.«
»Das ist kompletter Schwachsinn«, sagte Velvet. Alle im Speisesaal anwesenden Personen schnappten erstaunt nach Luft und starrten sie an. Dr. Franzens Gesicht wurde dunkelrot vor Wut.
»Hat jemand etwas gesagt?«, fragte er eisig.
»Ja, das habe ich«, antwortete Velvet. Sie stand leicht schwankend von ihrem Platz auf, wirkte ansonsten aber vollkommen
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