Das Geheimnis Des Amuletts
und würden schon bald die Sterne verdecken. Wir hatten keine Zeit zum Gehen oder zum Reiten. Ich führte meine Freunde auf den geheimen Wegen zum Weißen Tor, und sie klammerten sich aneinander, als sie durch den wirbelnden Vortex der Luft glitten, um danach atemlos und erstaunt am Eingang der Höhlen wieder aufzutauchen.
Sarah hat bereits erzählt, wie die Reise vom Höhleneingang bis zum unterirdischen Königreich verlaufen ist, wo die Kinsfolk darauf warteten, dass sich ihre Geschichte vollendet. Deshalb muss ich die Dunkelheit nicht noch einmal beschreiben oder die steinernen Tunnel, in denen es beständig tropft, die erstickende Luftlosigkeit, die Geräusche und Echos, die durch die seltsam geformten Felsen hallen, das Gurgeln des eisigen Wassers … Josh führte uns gut, und wenn er Evie noch achtsamer und zärtlicher half als uns Übrigen, so konnte ich ihm das nicht übel nehmen. Irgendetwas umgab die beiden in dieser Nacht, irgendwelche geheimen Gedanken gingen zwischen Evie und dem Jungen, der sie schon so lange so geduldig liebte, hin und her. Ich bemerkte, dass er ihre Hand nahm, als sie über ein paar lose Steine stolperte, und dass sie sie danach nicht wegzog. Ihre Körper schienen in der Dunkelheit miteinander zu sprechen, und ihre Gedanken suchten einander und fanden Trost aneinander, während wir der Gefahr immer weiter entgegenschritten.
Schließlich erreichten wir die tiefe Höhle und den murmelnden schwarzen See, wo wir Kundar und seine Kinsfolk zum ersten Mal getroffen hatten.
»Sarah«, sagte ich, »könntest du jetzt bitte dein Volk herbeirufen?«
Sie nickte und nahm den Rucksack ab, um daraus die Krone aus bronzenen Blättern zu nehmen. Cal setzte sie ihr stolz auf den dunklen Kopf. Dann reckte sie die Arme über das schimmernde Wasser und rief die Menschen der Erde an. »Kinsfolk, treue Krieger, erwacht aus eurem Schlaf. Eure Königin ruft euch.«
Wie warteten und sahen zu, strengten unsere Augen in der Dunkelheit an, die von allen Seiten wie näher kriechender Rauch an uns heranrückte. Unsere Taschenlampen blieben in der Düsternis fast wirkungslos.
»Sieh nur!« Cal packte Sarahs Arm. »Ich kann etwas sehen, da auf dem Wasser!«
Ein langes, aus einem ausgehöhlten Baumstamm bestehendes Boot glitt über den See auf uns zu. Ich konnte gerade eben so die zusammengekauerte Gestalt im bemalten Bug ausmachen, die ein Paddel aus Holz benutzte und es in regelmäßigen Abständen ins Wasser tauchte.
»Kundar, dem Himmel sei Dank!« Evie atmete erleichtert auf. Als er näher ans Ufer kam, erkannte ich sein hartes, wettergegerbtes Gesicht wieder. Wir wussten nicht genau, wie alt er war – tausend Jahre oder zweitausend? –, aber wir wussten, dass er absolut loyal war und wir ihm selbst an diesem finsteren Ort unser Leben anvertrauen konnten.
»Ich bin so froh, dich wiederzusehen, Kundar«, sagte Sarah und begrüßte ihn dankbar.
»Und ich freue mich über deinen Anblick, Königin meines Volkes. Ich bin gekommen, wie versprochen. Weit oben in der Überwelt wurde ein neuer Mond geboren. Die Zeit lächelt auf dich herab – im Augenblick. Eil dich, eil dich, kleine Königin, bevor die Zeit deine Freude abträgt. Beeil dich!«
Er wedelte mit den knochigen Armen und bedeutete uns, alle in das Boot zu steigen. Sarah und Cal hielten sich an den Händen, während sie durch das flache, bitterkalte Wasser zum Boot gingen, gefolgt von Evie und Josh. Kundar stand auf, und das Boot schwankte. »Komm«, sagte er und streckte mir die Hand entgegen. »Komm mit uns, Windgeist, Lufttänzerin, Lichtträgerin. Komm in die Dunkelheit, und stelle dich deiner Bestimmung.«
Seine Worte hallten unheimlich durch die feuchte, luftlose Höhle. Ich hatte an diesem Ort so tief unter der Erde das Gefühl, als würde ich ersticken, aber ich reichte Kundar die Hand und sprang ins Boot.
»Dann bring uns also hin«, sagte ich. »Bring uns zum Auge der Zeit.«
Kundar stieß das Boot von den Untiefen ab und steuerte es gekonnt auf den See hinaus. Es war unmöglich, bis zum anderen Ufer zu sehen, und während wir weiter und weiter in der Dunkelheit dahinglitten, versuchte ich den Gedanken an die unbekannten Tiefen aus trübem Wasser unter uns zu vermeiden und an die Kreaturen, die sich dort aufhalten mochten. Kundar paddelte stetig weiter und summte dabei leise vor sich hin. Dann verringerte er die Geschwindigkeit, als wir – nicht ans andere Ufer, wie ich zuerst gedacht hatte, sondern zu einer furchteinflößenden
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