Das Geheimnis des Falken
Heldentaten deiner Kinderzeit«, erklärte ich. »Hör zu, ich lese dir vor, und dann darfst du das Dokument als Erinnerung an deine bewegte Vergangenheit behalten.«
Ich beugte mich durch das offene Wagenfenster und las den Brief vor. Als ich fertig war, schaute ich lächelnd auf und warf ihm das Blatt in den Schoß.
»Rührend, nicht wahr?« sagte ich. »Wie stolz sie auf dich waren!«
Er gab keine Antwort, sondern saß reglos da, die Hände auf dem Steuerrad, und starrte ins Leere. Sein Gesicht war ausdruckslos und sehr blaß.
»Gute Nacht«, sagte er abrupt, und bevor ich etwas erwidern konnte, schoß der Wagen die Via San Michele hinauf und war außer Sicht.
Ich stand da und schaute ihm entgeistert nach.
17. Kapitel
Warum hatte der Brief so sonderbar auf Aldo gewirkt? Das fragte ich mich wieder und wieder, während ich schlafen ging, und ich fragte es mich immer noch, als ich am nächsten Morgen erwachte. Ich konnte mich nicht Wort für Wort an den Inhalt des Briefes erinnern, aber ich wußte doch so viel, daß darin von der großartigen Entwicklung des kleinen Burschen die Rede war und daß dieser versprach, ein bildhübscher Junge zu werden und wieviel Dank Luigi Speca doch gebühre für die große Freundlichkeit, die er in glücklich überstandenen schweren Tagen bewiesen habe.
Da Luigi Speca im Taufregister mit unterschrieben hatte, nahm ich an, daß er beides war, Aldos Pate und zugleich der Arzt, den man bei der Geburt zugezogen hatte. Daß diese Geburt schwierig gewesen sein mußte und Aldo und vielleicht auch unserer Mutter fast das Leben gekostet hatte, ging aus der seltsamen Doppeleintragung hervor, und darauf zielte sicher die Anspielung auf die ›schweren Tage‹ ab. Warum aber sollten diese Dinge Aldo so verstimmen oder erregen? Auch mich hatte der Brief bewegt, aber doch nicht aus der Fassung gebracht wie ihn.
An diesem Morgen gab ich mir keine besondere Mühe, pünktlich in der Bibliothek zu erscheinen. Toni hatte mir gesagt, daß die normalen Regeln am Tag der Examensfeiern sämtlich über Bord zu gehen pflegten.
Die Studenten, die im Examen gestanden hatten, würden sich mit ihren Angehörigen, den Leitern der Fakultäten, den ordentlichen und den Gastprofessoren in der Aula der Universität versammeln, und auch die unteren Ränge der Universitätsverwaltung würden vertreten sein, inklusive unseres Chefs Giuseppe Fossi in seiner Eigenschaft als Leiter der Bibliothek. Später dann durften die Studenten nebst Verwandten die Räume der neuen Bücherei besichtigen, die offiziell gleich nach den Osterferien, übernächste Woche, eröffnet werden sollte.
Ich saß allein am Frühstückstisch. Meine Mitpensionäre waren früh aufgebrochen, um die Feierlichkeiten in der Universität mitzumachen. Ich war gerade fertig, als das Telefon läutete. Signora Silvana kam und sagte mir, daß der Anruf für mich sei. »Ein Mann namens Jacopo. Er wollte mir nicht verraten, worum es sich handelt. Er meinte, Sie wüssten schon, wer er sei.«
Mein Herz klopfte zum Zerspringen, als ich in die Diele hinausging. Es mußte etwas mit Aldo geschehen sein, und das hing mit dem Brief von gestern abend zusammen! Ich griff nach dem Hörer. »Ja?« meldete ich mich.
»Signor Beo?«
Jacopos Stimme war ruhig. Es lag keine Angst darin.
»Ich habe eine Bestellung für Sie, vom Kommandanten«, sagte er. »Das Programm für heute abend hat sich geändert. Der Präsident, Professor Butali, ist mit Signora Butali aus Rom zurückgekommen.«
»Ich verstehe«, sagte ich.
»Der Kommandant möchte gern, daß Sie heute Vormittag bei ihm vorbeikommen«, fuhr Jacopo fort.
»Danke schön«, sagte ich und fügte, bevor er auflegen konnte, rasch hinzu: »Jacopo …«
»Signore?«
»Ist mit meinem Bruder alles in Ordnung? Oder wirkt er irgendwie bedrückt?«
Es folgte eine winzige Pause. Dann sagte der Ex-Feldwebel: »Ich habe den Eindruck, daß der Kommandant den Präsidenten nicht so früh zurückerwartet hat. Sie sind abends gekommen. Das Gepäck wurde gerade ins Haus gebracht, als der Kommandant auf dem Heimweg vorbeikam. Es war kurz vor elf.«
»Danke, Jacopo.« Ich hängte ein. Unter diesen Umständen war ein vierzig Jahre alter Brief bestimmt die geringste Sorge meines Bruders. Das Gespräch mit Signora Butali in Rom, das er Dienstag abend nach meinem Aufbruch geführt haben mußte, war ein offenbar vergeblicher Versuch gewesen, den Präsidenten in der Klinik zurückzuhalten. Der Kranke hatte den Ärzten gegenüber
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