Das Geheimnis des Falken
beiden Fällen die Drähte gezogen. Und ich sah, daß in seinem und im Sinne dieser Jungen Gerechtigkeit geübt worden war. Die Schalen der Justitia waren ins Gleichgewicht gebracht worden, den seltsamen Gesetzen entsprechend, die Herzog Claudio, der Falke, vor fünfhundert Jahren aufgestellt hatte und die jeder und zu jeder Zeit in alten Chroniken nachlesen konnte.
»Aldo«, wagte ich mich vor, »ich habe dich gestern abend schon danach gefragt, und du hast mir keine Antwort gegeben: Worauf willst du mit alledem hinaus?«
Mein Bruder schaute seine Gefolgsmänner der Reihe nach an und dann mich.
»Sie mußt du fragen«, sagte er, »frag sie, was sie sich vom Leben erhoffen. Du wirst von jedem, je nach Temperament, eine andere Antwort bekommen. Sie haben keine totalitären Ansichten, sie sind keine Ideologen, mußt du wissen. Sie haben alle ihre ganz persönlichen Ziele und Ambitionen.«
Ich sah Giorgio an, der mir zunächst stand.
»Die Heuchelei aus der Welt schaffen«, sagte er, »angefangen mit den alten Herren in Ruffano, und – den alten Damen. Sie sind so nackt geboren wie wir alle.«
»Weg mit dem schmutzigen Schaum auf dem Teich«, sagte Domenico, »wenn man ihn abhebt, findet man darunter reines Wasser und lauter lebendiges Leben. Weg mit dem schmutzigen Schaum!«
»Gefährlich leben«, sagte Romano, »egal, wo und wie, aber mit Freunden.«
»Verborgene Schätze entdecken«, sagte Antonio. »Vielleicht sind sie sogar auf dem Grunde des Reagenzglases im Laboratorium versteckt. Ich studiere Physik und habe keine Vorurteile.«
»Ich stimme Antonio zu«, sagte Roberto, »obwohl ich dabei keine Reagenzgläser im Sinne habe. Irgendwo im Weltall wartet die Antwort, wenn wir immer weiter forschen, und ich meine nicht den lieben Gott im Himmel.«
»Gebt zu essen denen, die hungrig sind«, sagte Guido, »und nicht nur Brot, sondern Ideen.«
»Baut etwas Bleibendes, das sich nicht wegschwemmen läßt«, sagte Pietro, »wie die Männer der Renaissance, die diesen Palast errichtet haben.«
»Reißt überall die Schranken ein, wo sie sich auch finden«, sagte Sergio, »den Zaun, der einen Mann von seinem Nächsten trennt. Führer ja, um den Weg zu zeigen. Aber keine Diktatoren und keine Sklaven. Das ist auch Fredericos Meinung. Wir haben es oft diskutiert.«
»Lehrt die Jungen, daß sie niemals alt werden dürfen«, sagte Giovanni, »auch dann nicht, wenn es schon in ihren Knochen knackt.«
»Erinnert die Alten daran«, sagte Lorenzo, »wie es ist, jung zu sein, und unter Jungsein verstehe ich, klein sein, hilflos und unfähig, sich verständlich zu machen.«
Die Antworten der jungen Leute kamen so scharf und prompt wie die Schüsse einer Gewehrsalve. Nur Cesare, der letzte in der Reihe, zögerte, bevor er sprach. Nach einem Blick auf Aldo sagte er schließlich: »Ich glaube, wir müßten vor allem dahinstreben, daß sich die Menschen wieder interessieren. Wofür sie sich interessieren, ist nicht so wichtig. Ob für Fußball oder Malerei, für ihre Nachbarn oder für spektakuläre Affären. Die Hauptsache, sie interessieren sich, leidenschaftlich, und notfalls so leidenschaftlich, daß sie ihr kostbares Leben ganz vergessen und – in die Schanze schlagen.«
Aldo sah mich an und zuckte die Achseln.
»Was habe ich dir gesagt? Sie haben alle eine und – ihre eigene Antwort parat, während im Stockwerk über uns Stefano Marelli nur eins im Sinne hat, nämlich wie er seine Haut retten kann.«
Das Schreien hatte wieder eingesetzt, und zugleich hörte man das Geräusch laufender Füße. Giorgio machte die Tür auf. Die blindlings stolpernden Schritte klangen jetzt von der Treppe her, trappelten die Galerie entlang, suchten nach einem Ausschlupf. Wir traten auf die Galerie hinaus und starrten ins Dunkel.
Eine Gestalt taumelte auf uns zu, die Hände auf dem Rücken gefesselt, auf dem Kopf einen schadhaften, durchlöcherten Eimer. Funken, produziert von Kinder-Knallfröschen, zischten aus den Löchern, stoben und spuckten um seinen Kopf, während er lief. Schluchzend taumelte er dahin und fiel Aldo zu Füßen.
Der Eimer rollte ihm vom Kopf. Die Knallfrösche sprühten noch einmal auf und erloschen. Aldo beugte sich vor und durchschnitt mit einem Messer, das ich vorher nicht an ihm bemerkt hatte, den Strick, mit dem die Hände des Studenten gebunden waren. Dann riß er den jungen Menschen auf die Füße.
»Da hast du deine glühenden Kohlen«, sagte er und stieß den Eimer und die ausgebrannten
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