Das Geheimnis des Falken
jeder Zeitbegriff abhanden, und das macht für mich die Hälfte des Vergnügens aus.«
In seinem eigenen Anzug, unverkleidet, sah er so normal aus wie jeder andere Mensch. Der Page erwartete uns und leuchtete mit seiner Fackel die Treppen hinab und über den Hof zum Seitenausgang. Jetzt war er es, der deplaciert wirkte, wie ein Komödiant, der für ein Schaugepränge kostümiert war, und auch die Mauern des Herzogspalastes, der schweigende Hof, hatten nichts Bedrohliches mehr, waren nur noch ein düsteres, dunkles, totes Museum.
Der Ferrari war vor der Mitteltür geparkt und von zwei Carabinieri bewacht, die auf Nachtbummler zu warten schienen. Ich zögerte, aber Aldo ging unbekümmert weiter. Die Männer erkannten ihn und salutierten. Einer riß den Wagenschlag auf. Da erst wagte ich Aldo zu folgen.
»Alles ruhig?« erkundigte sich mein Bruder.
»Alles ruhig«, antwortete der Mann, der den Schlag geöffnet hatte. »Zwar trieb sich eine Handvoll Studenten ohne Ausweise herum, aber wir haben ihnen heimgeleuchtet. Die meisten waren vernünftig. Sie wollen sich schließlich noch in den nächsten zwei Tagen ausgiebig amüsieren …«
»Das werden sie sicher«, lachte Aldo. »Gute Nacht und Waidmanns Heil.«
»Gute Nacht, Professor.«
Ich setzte mich neben Aldo in den Wagen, und wir fuhren die Via Vittorio Emanuele hinunter. Die Straße lag so ruhig da wie am Abend meiner Ankunft in Ruffano, vor fast einer Woche, nur daß es nicht schneite, daß nichts mich an den überwundenen Winter erinnerte. Die Luft war milde, und es lag eine sanfte Feuchtigkeit darin, die von der Adria über die Hügel kam.
»Wie findest du meine Jungen?« fragte Aldo.
»Sie glauben an dich«, sagte ich. »Schade, daß ich nicht soviel Glück hatte wie sie. Als ich in Turin studierte, paßte niemand auf mich auf, und niemand trimmte mich dazu, den Leibwächter für einen Fanatiker abzugeben.«
Er stoppte vor der Piazza Matrice und bog dann rechts, bei San Cipriano, ein.
»Einen Fanatiker?« wiederholte er. »Hältst du mich tatsächlich für einen Fanatiker?«
»Bist du das nicht?« fragte ich.
Die Innenstadt war ausgestorben. Das Kino hatte geschlossen. Die Bummler waren nach Hause gegangen, und die Angehörigen der Studenten schliefen oder lasen oder sahen fern hinter den geschlossenen Läden ihrer Miet- oder Pensionszimmer oder des Hotels del Duchi, während sich die Reichen wahrscheinlich in der raffinierteren Atmosphäre des ›Panoramica‹ gefielen.
»Ja, ich war fanatisch«, erwiderte Aldo, »damals, als ich diese Jungen heraussuchte und um ihrer Herkunft und ihrer Schicksale willen um mich versammelte. In jedem einzelnen sah ich dich, ein Kind, auf irgendeinem gleichgültigen Hügel ausgesetzt, von Kugeln getroffen oder von Bomben zerrissen. Damals war das für mich die einzige Antwort auf den Tod. Heute ist es anders. Man härtet sich ab, ohne sich abzufinden. Im übrigen war mein Gefühlsaufwand ja völlig verschwendet, wie sich herausgestellt hat. Du lebst.«
Er schwenkte in die Via San Michele ein und hielt vor Nummer 24. »Gepäppelt von Teutonen, Yankees und Turinesen, um schließlich zum Reiseleiter für ›Sonnenreisen‹ zu erblühen«, sagte er. »Lange lebt, wen die Götter lieben.«
Wieder quälten mich Zweifel und Unbehagen. Der Zweifel, daß jemand, der so treffsicher zu spotten wußte, den Verstand verloren haben könnte. Schrecken darüber, daß alles, was er für jene elternlosen Knaben getan hatte, in Wirklichkeit für mich getan worden war.
»Was geschieht jetzt?« fragte ich.
»Jetzt?« nahm er meine Frage auf. »Meinst du in diesem Augenblick oder in nächster Zukunft? Heute abend wirst du schlafen gehen und, wenn du Wert darauf legst, von der Signorina Raspa vis-à-vis träumen, die sich, aus der Anwesenheit von Giuseppe Fossis Wagen zu schließen, für die Abstinenz der letzten Nacht schadlos hält. Morgen kannst du dich nach Belieben in Ruffano herumtreiben und dich mit all den Burschen über ihre frischeroberten Diplome freuen. Dann isst du mit mir in der Via del Sogni, und dann sehen wir weiter.«
Er schob mich aus dem Wagen, und ich war schon draußen, als mir plötzlich der Brief in meiner Tasche wieder einfiel. Ich zog ihn vor.
»Du mußt dies hier lesen«, sagte ich. »Ich fand den Brief ganz zufällig heute nachmittag. Steckte in einem der Bücher, die wir in der neuen Bibliothek sortiert haben. Es geht ausschließlich um dich.«
»Um mich?« fragte er, »wieso um mich?«
»Um die
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