Das Geheimnis des Falken
Knallfrösche mit dem Fuß beiseite, »Spielkram für Kinder.«
Der Student, der immer noch schluchzte, starrte dem davonrollenden Eimer nach, während sich der ätzende Geruch der erloschenen Knallkörper ausbreitete.
»Ich habe Männer gesehen, die wie lebende Fackeln aus ihren brennenden Flugzeugen stürzten«, sagte Aldo. »Sei froh, Stefano, daß du nicht einer von ihnen warst. Und jetzt mach, daß du hinauskommst.«
Der Student wandte sich ab und torkelte über die Galerie auf die Treppen zu. Der verzerrte Schatten der laufenden Gestalt wirkte ungestalt wie eine riesige Fledermaus. Die Wachen setzten sich auf seine Spur und dirigierten ihn, da er jeden Ortssinn verloren hatte, über den Hof. Dann ließen sie ihn – durch das Tor zwischen den beiden Türmen – laufen. Der Klang seiner eilenden, vom Entsetzen getriebenen Füße erstarb. Die Nacht verschluckte ihn.
»Das wird er nie vergessen«, sagte ich, »und auch nicht vergeben. Er wird Hunderte von seinesgleichen aufwiegeln und sein Erlebnis bis zur Unkenntlichkeit glorifizieren. Willst du dir wirklich die ganze Stadt zum Feinde machen?«
Ich schaute Aldo an. Er war der einzige unter uns, der meine Frage von vorhin nicht beantwortet hatte.
»Das ist unvermeidlich«, erklärte er, »ob Stefano seinen Freunden nun von diesem Abend erzählt oder nicht. Bilde dir nur nicht ein, daß ich dazu da sei, in der Stadt oder auf der Universität Frieden zu stiften. Ich bin dazu da, Unruhe und Streit in die Welt zu bringen, einen gegen den anderen aufzuhetzen, alle Lust an der Gewalt, alle Heuchelei, allen Neid und alle Begierde ans Licht zu bringen, wie den Schaum auf dem Brunnen des Domenico. Erst wenn der Schmutz Blasen wirft und gärt und stinkt, können wir ihn beseitigen.«
In jenem Augenblick ergriff ein Gedanke Besitz von mir, den ich bislang in Treue und Liebe zu meinem Bruder immer wieder verworfen hatte, nämlich, daß Aldo geisteskrank war. Die Saat des Wahnsinns mußte schon während seiner Kindheit und Jugend in ihm geschlummert haben. Dann war sie offenbar gereift unter dem Eindruck all der Dinge, die er während des Krieges und danach erlebt und durchlitten hatte, durch den Schock, den der Tod unseres Vaters bedeutete, durch den Schmerz und das Verschwinden und den vermeintlichen Tod unserer Mutter und meiner selbst.
Und jetzt überwucherte der Irrsinn seinen Geist wie ein Krebs. Der Schmutz, den er an die Oberfläche steigen sah, war seine eigene Wirrnis. Das Symbol für die Übel dieser Welt war seine eigene Krankheit. Und ich konnte nichts tun … Es gab keinen Weg, ihn zu hindern, am Festivaltag eine Feuersbrunst zu entfesseln, der, bildlich gesprochen, vielleicht die ganze Stadt zum Opfer fallen würde, denn die Gruppe der Studenten um ihn herum war ihm mit Leib und Seele ergeben und würde nicht fragen.
Es gab nur einen Menschen, der ihn unter Umständen beeinflussen konnte, und das war Signora Butali. Signora Butali aber befand sich, soviel ich wußte, in Rom.
Aldo ging voran in den Audienzsaal, wo er weitere Details des Festivalprogramms durchsprach, Standorte, Termine und andere technische Details. Ich begnügte mich damit, einfach zuzuhören. Wichtig schien mir nur eins, und das zu erreichen lag jenseits meiner Macht: Dieses Festival abzusagen. Es gab nur einen Menschen, der das konnte: Das war der Präsident.
Irgendwann gegen zehn Uhr dreißig stand Aldo auf, kurz nachdem der Campanile die halbe Stunde geschlagen hatte.
»Einige von euch werden morgen wahrscheinlich ihr Diplom in Empfang nehmen«, sagte er. »Ich gratuliere im voraus. Feiern werden wir später. Im Gegensatz zu anderen Kandidaten habt ihr keine Eltern, die auf eure Gesundheit trinken und euch auf die Schulter klopfen können. Dafür werde ich bei euch sein … Wenn du soweit bist, Beo, lass uns fahren. Ich setze dich in der Via San Michele, in deiner Pension, ab. Bis dann, Jungens! Wir sehen uns morgen!«
Er ging durch das herzogliche Schlafgemach in den herzoglichen Ankleideraum und tauschte Wams und Kniehosen gegen seinen Anzug ein.
»Weg mit dem Narrenzeug!« sagte er. »Los, tu auch du den Plunder ab. Wirf ihn in den Koffer. Giorgio kümmert sich darum.«
Ich hatte für eine Stunde vollkommen vergessen, daß ich die goldlockige Perücke trug und das safranfarbene Gewand. Er bemerkte meine Überraschung und lachte.
»Ist es nicht schrecklich einfach, fünf Jahrhunderte zurückzuwandern in die Vergangenheit?« fragte er. »Manchmal kommt mir überhaupt
Weitere Kostenlose Bücher