Das Geheimnis des Falken
Arme auf der Brust verschränkt, zum nächtlichen Himmel auf.
22. Kapitel
Ich kann mich nicht erinnern, ob ich in jener Nacht geschlafen habe. Ich erinnere mich nur, daß die Zeit, abgesehen von Stunden, in denen ich entsetzlich fror, lauter Löcher hatte. Irgendwann stand ich auf und trampelte auf und ab, indem ich in meine Hände blies. Die waren so steif und taub, daß ich mich am liebsten in die relative Wärme von Professor Elias Hauseingang verkrochen hätte. Was ich aber dann doch unterließ, weil ich meine Nachtwache unter freiem Himmel als eine Art Prüfung empfand.
Aldo hatte, mit seinen Partisanen, zahllose solcher Nächte verbracht. Romano, Antonio, Roberto … die Jungen, die während der Resistenza aufgewachsen waren, hatten dies als Kinder alle erlebt. Aber nicht ich.
Nicht die Berge, sondern das schäbige Mobiliar zweitklassiger Hotels hatte die Kulisse meiner Kindheit gebildet. Über mir war nicht der Himmel gewesen, sondern, einengend und bedrückend, das nächstoberste Stockwerk eines Mietshauses. Die Erwachsenen, die mich verwöhnten und streichelten, um sich bei meiner Mutter beliebt zu machen, sprachen in fremden Sprachen. Ihre Uniformen stanken, nicht nach Schweiß oder sauberer Erde wie die zerrissenen Kleider der Partisanen, sondern nach dem verschütteten Wein des letzten Abends, nach dem Schweiß der Lust und nicht des Krieges.
Meine Diät bestand in kaugummizähen Frankfurter Würstchen, und ich bekam keine Kriegslieder zu hören, außer ›Auf Wiedersehn‹, eine Melodie, die meine Mutter wieder und wieder auf dem Koffergrammophon spielte, das der Kommandant ihr gekauft hatte und dessen Text er ihr ins Ohr flüsterte, wenn die beiden, randvoll von erlogenen Gefühlen, auf jedem gemieteten Diwan zueinander krochen, der ihnen gerade zur Verfügung stand.
Aldo und seine Kameraden und deren Kinder und die kleinen Waisen hatten als Bett nur die harte Erde oder bestenfalls einen Schlafsack gehabt, während ich halb erstickt unter Daunendecken in einem kleinen Zimmer neben dem meiner Mutter schlief, hinter einer viel zu dünnen Wand.
Die nächtlichen Schreie in den Hügeln waren nie für mich gewesen, noch das Rauschen der Gebirgsflüsse oder das Echo der Stürme, nur die Seufzer der Mattigkeit nach genossenen Liebesfreuden.
Darum wollte ich in dieser Nacht, wenigstens ein einziges Mal, in meiner Phantasie die Schönheit und die Härte einer Wirklichkeit erleben, die ich nie kennen gelernt hatte. So sehr ich fror, so erstarrt ich war, eben diese Empfindungen machten mich zum Teilhaber jener Vergangenheit. Die Steifheit meines Körpers, die Kälte, die mich lähmte, wurde zu einer Opfergabe, die ich verspätet darbrachte.
Wie ich schon sagte, zwischen Schlafen und Wachen klafften Lücken in der Zeit. Dann, als die Temperatur auf den Tiefpunkt sank, stand ich auf, stellte mich ans Tor des Waisenhauses und sah zu, wie der Morgen über Ruffano heraufdämmerte.
Zuerst war das Licht noch grau und kalt. Ein Gespenstertag schien anzubrechen, und die Schatten der Nacht wogten hin und her. Dann wurde der Himmel hart und weiß, und die dunstverhüllte Stadt färbte sich rosig. Die Sonne zog hinter den schlafenden Hügeln herauf. Goldene Pfeile eroberten die buntgemusterten Täler und trafen auf die verbarrikadierten Fenster der Stadt.
In den Bäumen der Anlagen begann es zu rascheln. Vögel, die zögernd zu einem neuen Tag erwachten, begannen zu rumoren. Und dann, als das Licht immer heller wurde und die Sonne sie zu streicheln begann, sangen sie.
Als ich ein Kind war, hatte mich Morgen für Morgen Aldos Stimme geweckt oder Marta, die aus der Küche rief. Damals hatte ich mich unendlich geborgen gefühlt. Jeder Morgen war die Verheißung eines Tages gewesen, der ewig dauern würde.
Jetzt wußte ich, während die Sonne die Spitzen der Türme in blinkende Schwerter und die Kuppel des Domes in einen Feuerball verwandelte – jetzt wußte ich, daß es keine Verheißung und keine Ewigkeit gab, oder wenn Ewigkeit, dann nur als eine Folge von Millionen von Geschlechtern, deren Versinken niemanden kümmerte, und alle Toten waren ausgelöscht. Dennoch – in der Erinnerung lebten noch die Männer fort, die die Stadt Ruffano erbaut hatten. Die Stadt war ihre Grabschrift. Sie hatten Schönheit geschaffen mit ihren Händen, und das war genug.
Sie waren für eine kurze Spanne auf der Welt gewesen, hatten sich verzehrt, waren gestorben.
Ich fragte mich, warum wir eigentlich nach mehr verlangten, warum
Weitere Kostenlose Bücher