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Das Geheimnis des Falken

Titel: Das Geheimnis des Falken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daphne DuMaurier
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allein, aber nur, wenn ich meine Identität nicht preisgab.
    Ich ging noch einmal am Palazzo Ducale vorbei, wandte mich dann nach links und gelangte kurz darauf in die Via del Sogni. Ich wollte mein Zuhause von einst bei Tageslicht sehen. Der Schnee war geschmolzen wie fast überall in Ruffano. Die Sonne mußte das Haus den ganzen Morgen beschienen haben, denn, durch den Baum hindurchspähend, konnte ich erkennen, daß die Fenster im ersten Stockwerk geöffnet waren. Dort hatten meine Eltern ihr Schlafzimmer gehabt, das in meiner frühen Kindheit ein Heiligtum für mich gewesen war und das ich später mied.
    Jemand spielte Klavier. Zu unserer Zeit war kein Klavier im Haus gewesen. Und wer da immer spielen mochte, er spielte wie ein gelernter Pianist. Ein Katarakt von Tönen stob aus den Tasten. Es war etwas, das ich kannte, wahrscheinlich hatte ich es im Radio gehört oder noch wahrscheinlicher im Musikzimmer der Universität Turin, durch das ich als Student zu den Vorlesungen zu eilen pflegte. Meine Lippen formten stumm die Klänge nach, wie sie stiegen und fielen, halb fröhlich, halb traurig, eine zeitlose Melodie. Debussy. Ja, Debussy. Die vielgespielte Arabeske, und von Meisterhand interpretiert. Ich stand hinter der Mauer und lauschte. Die Musik schwoll an, schwoll ab, wechselte die Tonart, glitt in die getragenen Passagen über, und dann kam abermals das optimistische Aufsprühen, hoher und immer höher, fröhlich, vertrauensvoll, doch plötzlich wieder absinkend, sich auflösend, verrinnend.
    Alles vorbei, so schien die Melodie zu verkünden. Nimmermehr. Die Unschuld der Jugend. Die Freuden der Kindheit. Das Aus-dem-Bett-Springen und einem neuen Tag entgegenjubeln und dann – erloschen das Glück, verbraucht der Elan. Die Wiederholung der Passage war nur noch Nachklang. Ein Echo auf die versunkene Zeit, die so schnell dahingegangen war, die man nicht halten konnte.
    Die Musik brach kurz vor den letzten Takten ab. Ich konnte das Telefon läuten hören. Der Klavierspieler mußte, um den Anruf zu beantworten, aufgestanden sein. Ich vernahm, wie das Fenster geschlossen wurde. Dann war alles still. Das Telefon stand früher in der Diele, und wenn meine Mutter oben war, mußte sie laufen, um den Hörer abzunehmen, und kam immer ganz außer Atem unten an.
    Ich fragte mich, ob es dem Klavierspieler genau so ging.
    Dann schaute ich zu dem Baum hinauf, der den kleinen Garten überdachte wie ein Baldachin. Irgendwo zwischen den Zweigen mußte ein Gummiball nisten, an dem mir damals sehr gelegen gewesen war. Eines Tages hatte ich ihn im Übermut in die Lüfte befördert und nie wieder gesehen. Ich fragte mich, ob er wohl noch da oben im Geäst saß, und mit dieser Frage stieg Zorn in mir auf, eine seltsame Feindseligkeit gegen die Leute, die jetzt in meinem Haus wohnten und das Recht hatten, durch die Zimmer zu gehen, die Fenster zu öffnen und zu schließen, das Telefon abzunehmen, während ich, ein Fremder, draußen vor der Tür stand und die Mauer anstarrte.
    Das Klavierspiel setzte wieder ein. Diesmal war es ein Präludium von Chopin, traurig und voller Leidenschaft. Die Stimmung des Spielers hatte nach dem Telefongespräch umgeschlagen. Jetzt war er tiefer Melancholie verfallen. Und all das ging mich nichts an.
    Ich wandte mich ab, ging die Via del Sogni hinauf und dann die Via dell' 8 settembre, gegenüber der Universität. Es war, als beträte man ein anderes Jahrhundert. Überall wimmelten junge Leute herum, strömten aus Hörsälen, lachten, schwatzten, kletterten auf ihre Vespas. Der alte Bau, von jeher als Studienhaus bezeichnet, hatte ein völlig neues Gesicht bekommen. Er prangte nicht nur in frischem Anstrich, sondern strahlte die Vitalität der Jugend aus.
    Es gab noch mehr neue Gebäude jenseits der Straße. Nein, diese Universität hatte nichts mehr zu tun mit dem bröckelnden, ziemlich abgetakelten Sitz der Gelehrsamkeit, den ich aus Kindertagen kannte. Die asketischen Züge waren verschwunden. Die Jungen mit ihrer munteren Verachtung für alle Art von Staub hatten die Herrschaft angetreten; und die Transistoren schmetterten.
    Mein Köfferchen in der Hand, stand ich da, ein Wanderer zwischen zwei Welten. Die eine – die Via del Sogni meiner Kindheit, mit all ihren Erinnerungen, aber nicht mehr mein – und diese andere, betriebsam, laut und mir genauso gleichgültig.
    Die Toten sollten nicht wiederkehren. Lazarus hatte recht gehabt, wenn er sich fürchtete. Gefangen zwischen Vergangenheit und

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