Das Geheimnis des Falken
Monat November auf. November, den 17. Dieses Datum hatte für mich immer große Bedeutung gehabt, einfach weil es Aldos Geburtstag war. Selbst in Genua, wenn ich im Spätherbst morgens auf den Bürokalender schaute, war der 17. November irgendwie dem Gestern zugeeignet. »Aldo. Sohn des Aldo Donati und der Francesca Rossi. Pate. Aldo Donati. Vater.« Eine Patin war nicht verzeichnet. In Klammern aber stand bei der Eintragung der Buchstabe ›v‹.
»Was hat das zu bedeuten, ein kleines ›v‹, das nach der Taufe neben die Eintragung gesetzt wird?« fragte ich den Sakristan.
»Das heißt ›verstorben‹ wenn es in Klammern steht«, sagte er, »und es bedeutet, daß das Kind zwar getauft wurde, aber anschließend gestorben ist.«
»Dann muß hier ein Irrtum vorliegen«, sagte ich, »dies Kind ist nicht gestorben.«
»Würden Sie mir die Eintragung zeigen?« fragte er.
»Nein, nein, lassen Sie mich noch einmal schauen«, sagte ich.
Aber da stand es schwarz auf weiß. Die Eintragung war völlig klar, mitsamt dem kleinen ›v‹. Ich blätterte weiter, und zu meiner Verblüffung tauchte die gleiche Eintragung, zwei Tage später, noch einmal auf. »Aldo, Sohn des Aldo Donati und der Francesca Rossi. Paten. Aldo Donati, Vater. Luigi Speca. Francesca Rossi.«
Und diesmal stand kein kleines ›v‹ in Klammern dabei. Der Irrtum war berichtigt worden. Aber wer war Luigi Speca? Ich hatte nie von einem Mann dieses Namens gehört. Und Aldo bestimmt auch nicht.
»Sagen Sie«, wandte ich mich an den Sakristan, »ist es Ihnen je vorgekommen, daß ein Kind zweimal getauft worden ist?« Er schüttelte den Kopf. »Nein, Signore. Wenn allerdings das Kind gekränkelt hat und die Eltern fürchteten, daß es sterben könnte, wäre es denkbar, daß man die Taufe am Tage der Geburt vorgenommen hat und daß die Zeremonie später wiederholt worden ist, nachdem das Kind sich gekräftigt hatte.«
Ich schaute die erste und dann die zweite Eintragung wieder an. Ich wurde aus keiner von beiden klug. Und dem Sakristan wollte ich sie nicht zeigen. Das ging nur mich etwas an.
»Sind Sie fertig mit dem Buch?«
»Ja«, sagte ich. »Nehmen Sie es.«
Ich sah zu, wie er den Band in den Schrank zurückstellte und wie er den Schlüssel umdrehte. Ich dankte ihm, und er geleitete mich unter Verbeugungen aus der Sakristei. Draußen war Sonnenschein. Ich ging über die Piazza Matrice zur Via Vittorio Emanuele. Sonderbar, daß Aldo zweimal getauft worden war. Das war genau eine jener Geschichten, die er, wäre sie uns bekannt gewesen, gehörig für sich ausgemünzt hätte.
»Ich starb«, ich konnte mir den Ton genau vorstellen, in dem er es gesagt hätte, »ich starb, und ich wurde wiedergeboren. Ich kam zurück aus dem Grab wie Lazarus.«
Marta hätte sicher Bescheid gewußt über die Taufe … Während ich darüber nachdachte, fiel mir der schielende Schuster ein. Ich hielt Ausschau nach seiner Werkstatt, die, soweit ich mich erinnerte, am Ende der ersten Straßenhälfte auf der linken Seite lag. Da war sie – aber größer und eleganter als früher, mit ganzen Reihen von neuen Schuhen, die zum Verkauf ausgestellt waren. Keine Schuhe mit nach oben gedrehten Sohlen und Schildchen mehr, die lediglich eine Reparaturwerkstatt anzeigten. Und über der Tür stand auch ein anderer Name. Mein schielender Ghigi von heute morgen hatte sich offenbar aus dem Geschäft zurückgezogen und wohnte jetzt in dem Häuschen neben dem Oratorium. Er war wahrscheinlich der einzige Mensch, durch den ich über Marta etwas erfahren konnte, er oder seine Schwester, wenn sie noch am Leben war; aber ich sah keine Möglichkeit, an ihn heranzukommen, ohne mich zu erkennen zu geben. Dasselbe galt für die Longhis im Hotel del Duchi. Es wäre so leicht, einfach wieder hinzugehen und zu sagen: »Ich wollte es Ihnen schon gestern abend erzählen. Ich bin der jüngere Sohn von Aldo Donati. Erinnern Sie sich noch an meinen Vater? Er war der Museumsdirektor im Herzogspalast.«
Selbst das schlaffe Gesicht der Signora würde sich sicher in einem Lächeln gekräuselt haben, wenn der erste Schreck einmal überstanden war. Und dann: »Erinnern Sie sich auch noch an Marta? Was ist aus Marta geworden?« Aber es hatte keinen Zweck. Es würde nicht klappen. Wer aus der Vergangenheit zurückgekehrt war, so wie ich, mußte anonym bleiben. Sonst gab es nur Verstrickungen, das sinnlose Zusammenknüpfen ausgeleierter Fäden. Es würde mir schon gelingen, sie selbst zu entwirren, heimlich und
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