Das Geheimnis des Falken
nicht das Motiv für den Mord geklärt gewesen?« fragte ich.
Aldo antwortete nicht. Er stand auf und rief nach Jacopo. Jacopo möge den Kaffee bringen.
Nachdem er uns beiden eingeschenkt hatte, begann er nachdenklich in seiner Tasse zu rühren.
»Ein Motiv für einen Mord«, sagte er. »das haben wir gelegentlich alle einmal. Du genau so gut wie jeder andere. Lauf doch hin zur Polizei, wenn du durchaus willst, und erzähle ihnen, was du mir gerade erzählt hast. Du hast eine alte Frau auf der Treppe einer Kirche liegen sehen, und dieser Anblick erinnerte dich an ein Altarbild, vor dem du dich als Kind besonders gefürchtet hast. Gut und schön. Was also tust du? Du beugst dich über die Frau, und sie hebt den Kopf. Sie erkennt dich, das Kind, das vor zwanzig Jahren mit den deutschen Truppen flüchtete. Du erkennst sie auch, und in deinem Hirn wird irgendeine Schraube locker. Du bringst sie um, in einem blinden Instinkt, der dich treibt, jegliche Erinnerung umzubringen, die dich verfolgt, und steckst ihr, um dein Gewissen zu beschwichtigen, einen Zehntausend-Lire-Schein in die Hand.«
Er trank seinen Kaffee aus und ging zum Telefon hinüber. »Ich werde den Kommissar anrufen«, sagte er, »heute, am Sonntag, ist er sicherlich zu Hause. Zumindest wird er mich über den letzten Stand der Dinge unterrichten können.«
»Nein, warte, Aldo … warte«, schrie ich, von panischer Angst gepackt.
»Worauf? Du möchtest Klarheit haben, und das möchte ich auch.« Er ließ sich verbinden.
Ich hatte mein Geheimnis aus der Hand gegeben. Es war nicht mehr mein Geheimnis, meine ureigenste Qual. Jetzt wurde es von Aldo geteilt, und daß er es teilte, steigerte noch meine Verwirrung. Ich hätte den Mord begangen haben können, so wie er es geschildert hatte. Ich hatte keinen Zeugen, kein Alibi. Und das Motiv, das er unterstellte, war auf eine verrückte Art durchaus plausibel. Ich würde ganz vergebens meine Unschuld beteuern. Warum sollte die Polizei mir Glauben schenken?
»Du wirst mich nicht in die Sache hineinbringen?« fragte ich. Er schlug die Augen mit gespielter Verzweiflung zum Himmel auf, während er schon in die Muschel sprach.
»Sind Sie selbst am Apparat, Kommissar?« sagte er. »Ich hoffe, ich habe Sie nicht vom Mittagstisch weggeholt. Hier Donati. Aldo Donati. Sehr gut, danke vielmals. Kommissar, ich bin beunruhigt wegen eines Gerüchtes, das in der Stadt kursiert und das mir Jacopo, mein Bedienter, zugetragen hat. Es heißt, daß unser früheres Kindermädchen, Marta Zampini, die offenbar seit ein paar Tagen vermisst war, mit der Frau identisch sein könnte, die in Rom ermordet worden ist … Ja … ja … Nein, ich bin ein vielbeschäftigter Mann, wie Sie wissen, ich lese kaum Zeitungen. Jedenfalls habe ich über diese Sache nichts gelesen … Die Ghigis, ja. Sie hat jahrelang bei ihnen gelebt … Ich verstehe … ja …«
Er schaute zu mir herüber und nickte. Mich verließ aller Mut. Es war also doch wahr! Obwohl ich es mir von Anfang an hätte klarmachen müssen: die Gewissheit, da sie gekommen war, würde mich von meiner Angst nicht erlösen. Ich war im Gegenteil noch tiefer verstrickt als zuvor.
»Es besteht also gar kein Zweifel. Das tut mir sehr leid. Sie war inzwischen völlig verkommen, wissen Sie, ich hatte sie im Hause behalten, bis es unmöglich wurde. Die Ghigis können Ihnen auch nichts sagen, nehme ich an. Warum Rom? Irgendein dunkler Impuls, ja, vielleicht … UndSic hoffen, den Schuldigen bald verhaften zu können. Sehr gut. Vielen Dank, Kommissar. Ja, ich bin Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mir Bescheid geben, sobald Sie weitere Einzelheiten wissen. Inzwischen behandle ich die Sache selbstverständlich vertraulich. Danke, danke sehr.«
Aldo legte den Hörer wieder auf die Gabel. Dann nahm er ein neues Päckchen Zigaretten aus einer Dose und warf es mir hin. »Beruhige dich«, sagte er. »Du wirst bald aus dem Schneider sein. Sie rechnen damit, daß sie den Täter innerhalb von vierundzwanzig Stunden verhaften werden.«
Seine Annahme, daß ich primär um meine eigene Haut gezittert hatte, entsprach so sehr seiner früheren Einstellung zu mir, daß es sich nicht lohnte, ein Wort dagegen zu sagen. Schuldig, ja schuldig war ich! Schuldig, ihr das Geld in die Hand gedrückt zu haben und nicht zu ihr zurückgekehrt zu sein. Schuldig, daß ich auf die andere Straßenseite geflüchtet war. Mein gepeinigtes Gewissen trieb mich zum Angriff.
»Warum hat sie getrunken?« fragte ich. »Hast
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