Das Geheimnis des Falken
gebracht hatte.
»Dann schau bitte einmal hier herein, während ich weg bin«, sagte er. »Ich wollte sie eigentlich einem meiner Jungens geben, einem deutschen Studenten; aber du wirst das noch besser machen als er. Übersetze mir bitte alles, was du für wesentlich hältst, und schreib es auf.«
Er warf die Bücher auf den Tisch.
»Ich muß dich darauf aufmerksam machen, daß ich in den Bänden bereits herumgelesen habe«, sagte ich. »Schon der erste, zugegeben flüchtige Eindruck legt die Vermutung nahe, daß der Falke keineswegs der unverstandene Genius war, als den du ihn deinen Auserwählten gestern abend hingestellt hast, sondern etwas ganz anderes. Wenn Signora Butali die Bücher tatsächlich nach Rom zum Präsidenten bringt, erleidet er garantiert einen zweiten Herzanfall.«
»Darüber mach dir keine Gedanken?« sagte Aldo, »er wird sie nicht zu lesen bekommen. Sie hat die Bücher für mich besorgt. Ich bat sie darum.«
Ich zuckte die Achseln. Er mußte es wissen. Als Direktor des Kunstrats von Ruffano hatte er unbestreitbar das Recht zu diesem Vorgehen.
»Jener Deutsche, der das Werk geschrieben hat, war natürlich befangen«, fuhr Aldo fort. »Die Gelehrten des 19. Jahrhunderts waren das alle. Aus den frühen italienischen Aufzeichnungen, die ich letzte Woche in Rom las, ergibt sich ein völlig anderes Bild. Jacopo?«
Jacopo erschien.
»Ich gehe für eine Stunde weg«, sagte Aldo, »lassen Sie; niemanden herein. Später essen Beo und ich auf Nummer 8.«
»Ja, Signore«, sagte Jacopo. Dann fügte er hinzu: »Heute nachmittag hat eine Dame vorgesprochen. Sie war zweimal da und nannte auch ihren Namen. Signorina Raspa.«
»Was wollte sie?«
In Jacopos Pokergesicht flackerte ein Lächeln auf.
»Offensichtlich wollte die Signorina Sie«, sagte er, während ich auf den Briefumschlag deutete, der immer noch ungeöffnet auf dem Tisch in der Diele lag.
»Der kam gestern abend«, sagte ich. »Ich sah, wie sie ihn durch den Türspalt schob, als ich hinter dem Doppeleingang stand und wartete.«
Aldo nahm den Umschlag und warf ihn mir zu.
»Lies du«, sagte er, »du bist mit ihr nicht mehr und nicht weniger befreundet als ich.«
Damit verließ er das Haus. Die Tür fiel krachend ins Schloß. Ich hörte, wie er den Ferrari anließ. Bis zum Palazzo Ducale ging man nicht länger als vier Minuten, aber er mußte natürlich den Wagen nehmen …
»Immer noch Flieger?« fragte ich Jacopo.
»Er wird nie etwas anderes sein«, erwiderte der Ex-Flughelfer. »Dieser Kunstrat?« Er ließ die Finger in einer herrlich verächtlichen Geste durch die Luft schnippen. Dann goß er ein Glas Vermouth ein und stellte es mit Schwung vor mich hin.
»Ich wünsche ein angenehmes Abendessen«, sagte er und ließ mich allein.
Ich öffnete Carla Raspas Brief ohne Bedenken. Er begann sehr förmlich. Sie bedankte sich bei Professor Donati für die außerordentliche Freundlichkeit, ihr und ihrem Begleiter Karten für die Abendsitzung im Palazzo Ducale gewährt zu haben. Sie sei von diesem Erlebnis tief beeindruckt, und sie würde die vielen und weit reichenden Fragen, die er in seiner Ansprache an die Studenten aufgeworfen habe, so gern mit ihm selbst diskutieren. Sie würde ihm mit Vergnügen einen Besuch machen oder sich, umgekehrt, falls er einmal nichts Besseres vorhaben sollte, hochgeehrt fühlen, wenn sie ihm in ihrer Wohnung, Via San Michele Nummer 5, einen Drink anbieten oder ihn zum Essen bitten dürfte.
Der Brief endete, mit freundlichen Grüßen, so förmlich, wie er begonnen hatte. Aber die Unterschrift, Carla Raspa, zog sich in zärtlichen Windungen quer über die ganze Seite, wobei sich die Buchstaben ineinander verschlangen wie die Glieder zweier Liebender. Ich steckte das Blatt in den Umschlag zurück und fragte mich, ob die Schreiberin wohl immer noch wartete. Dann wandte ich mich, nicht ohne Erleichterung, den Vergnügungen des Falken zu.
»Herzog Claudios frühe Liebesabenteuer«, las ich, »waren ein Skandal in den Augen der Stadt, deren Bürger einem gesetzteren Lebenswandel huldigten. Außerdem ruinierte der Herzog auf diese Weise seine Gesundheit. Sein Wahnwitz und seine Lasterhaftigkeit nahmen so beängstigende Formen an, daß die älteren Mitglieder des Hofes fürchteten, weitere Exzesse würden ihren Herrn in Lebensgefahr bringen. Des Herzogs böser Geist führte ihn auch in die Gesellschaft herumzigeunernder Schauspieler. Entzückt von ihren losen Sitten, schloß er sich ihnen rückhaltlos an und
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