Das Geheimnis des Falken
Ehrgeiz noch mit Geld noch mit einem bestimmten Ziel zusammenhing.
Jetzt, in der Abenddämmerung, hob sich der Buckel des Berges klar und scharf vom Himmel ab, blau wie der Mantel eines Mandarins.
»Weißt du noch«, sagte er. »als du ein kleiner Junge warst, wandte ich oft endlose Mühe daran, ein Kartenhaus auf dem Tisch dort zu errichten, an dem wir heute gegessen haben. Ich pflegte die ganze Fläche zu bebauen und muß wohl ein halbes Dutzend Kartenspiele dazu gebraucht haben. Und dann kam der große Triumph: Wenn ich mit einem Atemzug das ganze Gebäude zum Einsturz brachte.«
Von sich selbst sprach er ausschließlich in der Vergangenheit (»Ich wollte dies, ich wollte jenes. Ich beschloß, so und so vorzugehen …«) – nicht ein einziges Mal in der Gegenwart oder in der Zukunft.
Später fragte ich im Laufe der Unterhaltung: »Denkst du nicht daran, eines Tages zu heiraten? Eine Familie zu gründen, etwas, das bleibt, wenn du einmal gehst?«
Er lachte. Er hatte sich ans Fenster gestellt und blickte auf die Hügelkette in der Ferne.
Ich wußte es noch sehr genau. Die dünnen Karten, die in zitterndem Gleichgewicht eine riesige Pagode bildeten, und der aufregende Augenblick, da die letzte Karte das Ganze krönte – ein Augenblick, der seltsam beängstigend, aber auch wunderschön war für ein staunendes Kind.
»ja«, sagte ich, »ich weiß es noch, aber was hat das mit meiner Frage zu tun?«
»Alles«, antwortete er.
Er ging durchs Zimmer, nahm eins der Flugzeugbilder von der Wand und zeigte es mir. Es stellte ein Kampfflugzeug dar, das brennend abstürzte.
»Es war nicht das meine, aber es hätte meines sein können«, sagte er, »so habe ich andere abstürzen sehen. Kameraden, an deren Seite ich flog. Meine Maschine war kein echter ›Brenner‹, ich stieg aus, bevor sie Feuer fing, und dann sauste sie hinunter wie ein zischender Drache. Als sie getroffen wurde, war ich gerade im Steigen. Die Explosion – ich begriff sofort, was los war – und mein Start in den Himmel fielen zusammen, und das große Erlebnis bestand für mich darin, daß der Augenblick, in dem ich getroffen wurde, einen ungeheuren Jubel, eine Ekstase sondergleichen in mir auslöste. Das war Tod und Sieg zugleich. Schöpfung und Zerstörung, alles in einem. Ich hatte gelebt, und ich war gestorben.«
Er hängte das Bild wieder an die Wand. Ich sah immer noch nicht, was all das mit Heirat und Ehe und Familiengründung zu tun hatte, abgesehen davon, daß einem ein Erlebnis wie dieses, das ich vergeblich nachzuempfinden versuchte, indem ich auf das Bild starrte, wohl alle anderen Dinge unwesentlich erscheinen ließ. Dem Tod begegnet zu sein, und das in Freuden, minderte denWert Leben.
Aldo schaute auf die Uhr. Es war ein Viertel vor sieben.
»Ich muß dich jetzt allein lassen«, sagte er. »Ich habe eine Sitzung im Palazzo Ducale, die aber wohl nicht länger als eine Stunde dauern wird. Weitere Diskussionen zum Thema Festival.«
Wir waren auf das Festival den ganzen Tag über nicht zu sprechen gekommen und auch nicht auf Aldos gegenwärtige Tätigkeit. Die Vergangenheit hatte uns Gesellschaft geleistet.
»Bist du heute abend verabredet?« fragte Aldo.
Ich schüttelte lächelnd den Kopf. Wozu sollte ich mich verabreden, nun da wir wieder zusammen waren, Aldo und ich.
»Sehr schön«, sagte er, »dann nehme ich dich nachher mit zum Essen, zu Livia Butali.«
Er ging ans Telefon und wählte eine Nummer. Im gleichen Augenblick sah ich mich im Geist weiter unten, in der Via del Sogni, vor unserm alten Haus stehen: Ich hörte Klavierspiel, wieder Chopin, und wie die Musik plötzlich aufhörte und die Spielerin durch das Zimmer und hinunter zum Telefon lief, um den Anruf zu beantworten, auf den sie den ganzen Tag gewartet hatte.
Indessen sprach Aldo weiter in den Hörer. »Wir sind zu zweit. Sagen wir, Viertel nach acht.«
Ihre Gegenfrage wehrte er kurz angebunden ab und hängte ein. Ich konnte mir vorstellen, wie sie vor dem Apparat stand, enttäuscht und verwundert, und wie sie zurückging ans Klavier und sich in das Staccato einer leidenschaftlichen Etüde stürzte.
»Sagtest du nicht, daß zum Vorrat deiner oberflächlichem Kenntnisse auch die der deutschen Sprache gehöre?« fragte Aldo plötzlich und ohne Übergang.
»Ja«, sagte ich, »das Vermächtnis des Kommandanten.«
Er überhörte die Spitze und brachte von einem Stuhl, der hinter dem Diwan stand, die Bände herbei, die ich Signorina Butali am Tage zuvor
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