Das Geheimnis des Falken
betraute die jüngeren mit hohen Posten bei Hofe.«
Na gut, Aldo hatte darum gebeten; also suchte ich mir Papier und Bleistift und schrieb, an meinem Vermouth nippend, die bezeichnendsten Absätze in italienischer Übersetzung nieder.
»Die zufällige Begegnung des Falken mit den Komödianten wurde zu einer intimen Freundschaft, die allmählich seine ganze Zeit und all seine Gedanken in Anspruch nahm. Diese Menschen, die aus der Hefe der Gesellschaft stammten, wurden in der Öffentlichkeit wie im Privatleben des Herzogs zu seinen unzertrennlichen Begleitern. Indem er seinen Lebenswandel dem ihren anpasste, schlug er allem Anstand ins Gesicht, stürzte sich von einer Ausschweifung in die andere und bot seinem Volk Schauspiele so schamloser Art, daß …« Hier verfiel der deutsche Autor schaudernd ins Griechische, und alte Sprachen hatten in meinem Studium nicht auf dem Programm gestanden. Im Hinblick auf das Festival war das vielleicht ganz gut, aber ich selber war enttäuscht. Hastig blätterte ich zurück zu den Seiten, die ich schon in der Bibliothek gelesen hatte.
Irgend jemand, sicher Aldos junger Schüler, war mir zuvorgekommen. Mein Bruder mußte die Bücher, kurz nachdem ich sie Signora Butali gebracht hatte, abgeholt und seinem Übersetzer zu einer ersten Durchsicht gebracht haben. Papierstreifen bezeichneten die Abschnitte, die sich auch mir eingeprägt hatten.
»… als die gepeinigten Bürger von Ruffano Anklage gegen ihn erhoben, übte Herzog Claudio Vergeltung, indem er erklärte, daß ihn der Himmel beauftragt habe, seinen Untertanen die Strafen aufzuerlegen, die sie sich verdient hätten. Die Stolzen würden nackt dastehen, die Hochmütigen würden vergewaltigt und die Verleumder zum Schweigen gebracht werden. Die Schlange sollte sterben an ihrem eigenen Gift. So würden die Schalen der himmlischen Gerechtigkeit wieder ins Gleichgewicht kommen.
Bei einer Gelegenheit wurde ein Page, der es versäumt hatte, die Beleuchtung für das Nachtmahl des Herzogs zu beschaffen, von der Leibwache des Falken ergriffen, die den unglücklichen Jungen in Lumpen wickelten, sein Haar ansteckten und ihn durch die Gemächer des Palastes hetzten, so daß er unter unsäglichen Qualen starb.«
Eine nette Geschichte. Ein wenig hart im Sinne der himmlischen Gerechtigkeit. Ich las weiter.
»Die Bürger, empört über die Schande, die Nacht um Nacht über ihre Häuser hereinbrach, erhoben sich schließlich gegen den Herzog, aufgestachelt von einem führenden Arzt, dessen Frau vom Falken selbst vergewaltigt worden war. Während des Aufruhrs, der darauf folgte, verlor der unselige Herzog sein Leben. Die Lust an der Schauspielerei, die er auf der Bühne mit seinen Gefolgsleuten entwickelt hatte, trieb ihn dazu, ein bis dahin unerhörtes Wagnis zu unternehmen, nämlich ein Gespann von achtzehn Pferden ganz allein von der Burg auf dem nördlichen Hügel durch die ganze Stadt hindurch und den anderen Hügel hinauf bis zum Palazzo Ducale zu lenken. Nachdem zahllose Bürger von den Hufen der Pferde zu Tode getrampelt worden waren, nahm die gesamte Bevölkerung die Verfolgung auf. Diese seine letzte Fahrt, die man späterhin in Ruffano die Flucht des Falken nannte, endete mit der Ermordung des Herzogs.«
Ich goß mir noch ein Glas Vermouth ein. Ich war der Meinung gewesen, der Herzog hätte sich von der höchsten Spitze des Turmes geworfen und erklärt, er sei der Vogel, dessen Namen er trug. Der deutsche Gelehrte sagte nichts darüber. Vielleicht enthielten die italienischen Quellen mehr Einzelheiten.
Fleißig brachte ich die Fakten für meinen Bruder zu Papier. Die griechischen Sätze würde freilich jemand anders enträtseln müssen.
Als Aldo kurz vor acht in glänzender Laune zurückkam – offenbar hatte er die eher düstere Stimmung des frühen Nachmittags, da wir gemeinsam die Vergangenheit beschworen hatten, überwunden –, händigte ich ihm meine Notizen aus. Er las sie, während ich mir die Hände wusch. Als ich nach ein paar Minuten zurückkam, sah ich ihn lächeln.
»Das ist gut«, sagte er, »das ist ausgezeichnet. Du hättest mir keine größere Freude machen können.«
»Gern geschehen«, sagte ich auf amerikanisch, während er die Blätter in die Tasche stopfte.
Er rief Jacopo ein »Auf Wiedersehen« zu, bevor wir das Haus verließen. Diesmal, notierte ich, nahm er den Wagen nicht. Wir gingen die Via del Sogni zu Fuß hinunter zu unserem früheren Zuhause. »Wie willst du mein Erscheinen eigentlich
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