Das Geheimnis des Falken
Sie sind ohnehin reif für eine Revolte.«
Sie schaute zu mir herüber und zog die Augenbrauen hoch.
»Also eine Neuerung«, sagte sie, »ich dachte, daß nur die Kunststudenten beim Festival mitwirkten.«
»Diesmal geht das nicht«, sagte er, »es sind zu wenig.« Sie nahm einen letzten Schluck Likör, Nektar für die Königin vor dem Hochzeitsflug, und setzte sich auf den Klaviersessel.
»Was soll ich für Sie spielen?« fragte sie.
Die Frage galt mir, und das Lächeln galt mir. Aber der Ton, in dem sie sprach, die Haltung, in der sie dasaß, die Hände, die über den Tasten schwebten, meinten meinen Bruder.
»Die Arabeske«, sagte ich. »Sie hat nichts mit Liebe zu tun.«
Sie hatte nichts mit Liebe zu tun gehabt, am gestrigen Tag, da ich, ein Fremder, fremd in meinem eigenen Haus und von Gespenstern umgeben, der einzige Zuhörer war, da ich allein dem Auf und Ab der Töne gelauscht hatte, und die verrieselnde Melodie von Sehnsucht gesprochen hatte und der resignierten Erinnerung an den flüchtigen Augenblick.
Jetzt war es Abend, und Aldo war da. Die Spielerin, die gestern aus Höflichkeit und aus ihrem eigenen freien Willen heraus gespielt hatte – jetzt suchte sie in der Art, die ihr natürlich war, um meinen Bruder zu werben. Die Arabeske, die allenthalben tausend Klavierschüler spielen, wurde zum Liebestanz, lockend und schamlos.
Ich war verwundert, daß sie sich so völlig preisgab, und starrte, sehr gerade auf meinem Stuhl sitzend, zur Decke hinauf.
Von ihrem Platz hinter dem aufgestellten Flügel konnte sie den Mann nicht sehen, den sie zu betören hoffte. Ich aber sah ihn. Er zog einen Bleistift heraus und schrieb Randbemerkungen auf meine Notizblätter, ohne die Musik zu beachten. Debussy, Ravel, Chopin, keinem gelang es, ihm Eindruck zu machen. Es war nicht ausgeschlossen, daß die Klänge ihm halfen, sich zu konzentrieren, daß das, was er, ab und zu vor sich hin lächelnd, zu Papier brachte, Regieanweisungen waren, mit denen er zu gegebener Zeit sein Publikum zu verzaubern hoffte. Sicher war es nicht.
Die Musik hatte nie zu Aldos Leidenschaften gehört. Wenn unsere Gastgeberin ihm vorspielte, so war das für ihn wahrscheinlich ein Hintergrundgeräusch, das ihn persönlich nicht mehr berührte als der Verkehrslärm.
Der Gedanke, daß alle ihre Mühe so ganz verschwendet war, wurde mir fast unerträglich. Während ich mir eine Zigarette anzündete, begann ich mir auszumalen, daß ich in Aldos Haut steckte, daß ich aufstehen würde, sobald der letzte Ton verklungen war, und durchs Zimmer gehen und die Hände über ihre Augen legen. Dann würde sie ihre Arme nach mir ausstrecken …
Mein Traum wurde immer deutlicher, je mehr das Tempo des Spiels sich steigerte. Es schien mir unmöglich, so stumm dabeizusitzen und eine Botschaft in Empfang zu nehmen, die leider nicht an mich gerichtet war. Daß Aldo diese Botschaft eines Tages doch noch vernehmen würde, bezweifelte ich nicht, und ich wünschte ihm alle Freude und ihr alle Erfüllung – aber so mönchisch am Vergnügen anderer teilzunehmen, war, gelinde gesagt, eine Rolle, bei der ich mich benachteiligt fühlte. Signora Butali mußte Ähnliches empfunden haben, denn plötzlich klappte sie den Flügel zu und stand auf.
»Nun?« fragte sie. »Ist der Aufruhr vorüber? Dürfen wir aufatmen?«
Der ironische Unterton, falls sie ihn absichtlich in ihre Worte gelegt haben sollte, kam bei meinem Bruder so wenig an wie das Klavierspiel.
Er schaute auf und legte seine Notizen beiseite.
»Wieviel Uhr ist es? Ist es spät?« fragte er.
»Zehn«, erwiderte sie.
»Und ich hatte den Eindruck, wir wären eben erst vom Essen aufgestanden«, sagte er gähnend und räkelte sich. Dann steckte er die Notizen in die Tasche.
»Hoffentlich sind Sie mit der Exposition fertig«, sagte sie, »wenn's das war, woran Sie den ganzen Abend gearbeitet haben.«
Sie bot mir einen weiteren Likör an, aber ich schüttelte den Kopf und murmelte etwas von Aufbruch in die Via San Michele. Aldo lächelte. Ob sich sein Lächeln auf meine Rücksichtnahme bezog oder auf Signora Butalis leicht hingeworfene Spitze, vermochte ich nicht zu entscheiden.
»Die Eröffnungsszene«, sagte er, »wird sich nicht auf offener Bühne abspielen oder sollte es jedenfalls nicht, wenn wir Diskretion walten lassen wollen.«
»Das Gedonner der Pferdehufe?« fragte ich. »die große Raserei?«
»Aber nein«, er runzelte die Stirn, »das kommt erst zum Schluß. Für den Anfang brauchen wir
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