Das Geheimnis des Falken
herschaffen und sie hier beerdigen. Sie haben auch den Kerl geschnappt, der es getan hat. Einer aus der Unterwelt.«
Mein Blick flog zu den großen Lettern der Schlagzeile hinauf. »Gestern abend nahm die römische Polizei einen zur Zeit arbeitslosen Taglöhner, Giovanni Stampa, fest, der schon einmal neun Monate wegen Diebstahls gesessen hat. Er gestand, daß er der Toten einen Zehntausend-Lire-Schein abgenommen habe, leugnete aber den Mord.«
»Er behauptet, er sei unschuldig«, sagte ich.
»Würden Sie das an seiner Stelle nicht auch tun?« fragte Signora Silvana.
Es war jetzt genau eine Woche her, seitdem ich mit meiner Reisegesellschaft nach Rom gekommen war und in der folgenden Nacht die schlafende Frau an der Kirchentür gesehen hatte, von der nun feststand, daß sie Marta war. Nur eine Woche. Eine spontane Geste meinerseits hatte zu dem Mord geführt und zu meiner Flucht nach Hause und zu der Begegnung mit meinem Bruder, der keineswegs tot, sondern höchst lebendig war. Zufall oder Vorbestimmung? Die Naturwissenschaftler wußten auf diese Frage keine Antwort, und die Psychologen oder die Priester auch nicht. Wäre ich in jener Nacht nicht noch einmal auf die Straße gegangen, würde ich jetzt auf dem Rückweg von Neapel nach Genua sein und meine Herde hüten. Inzwischen hatte ich meine Stellung als Reiseleiter verloren und – was dafür eingetauscht? Einen Aushilfsjob als Bibliotheksassistent, den ich Aldos wegen nicht aufgeben konnte, nicht aufzugeben wagte.
Er – der von den Toten auferstandene Aldo – war jetzt mein Daseinsgrund. Wir, meine Mutter und ich, hatten ihn damals verlassen und zweifellos beigetragen zu der Zwiespältigkeit seines Wesens, die er jetzt an den Tag legte. Nie wieder durfte ich ihn verlassen. Was immer mein Bruder tun würde, ich mußte zu ihm stehen. Der Mord an Marta brauchte mich nicht mehr zu beunruhigen, nun der Mörder gefaßt war. Meine Sorge galt Aldo.
Wie gestern summte die Bibliothek nur so von Gerüchten. Die Sekretärin. Signorina Gatti, war damit beschäftigt, die von Toni verbreitete Geschichte zu bestreiten, daß ihre Altersgenossin, die unglückliche Signorina Rizzio, erst in Ruffano im Städtischen Krankenhaus geröntgt worden und dann weggefahren sei, um sich anderswo operieren zu lassen.
»Die Geschichte ist böswillig erfunden und vollkommen unwahr«, erklärte sie, »Signorina Rizzio hatte ohnehin eine schlimme Erkältung und leidet seit langem an Asthma. Sie ist mit Freunden nach Cortina gegangen.«
Unser Vorgesetzter, Giuseppe Fossi, tat die ganze Sache als Studentenklatsch ab. »Außerdem wird der unglückselige Fall sehr bald eines natürlichen Todes sterben«, verkündete er, »und zwar dank Professor Donati, der eine Versöhnung zwischen Professor Rizzio und Professor Elia zustande gebracht hat. Heute abend gibt er für die beiden ein großes Essen im Hotel Panoramica. Meine Frau und ich sind auch eingeladen und die Professoren von den verschiedenen Fakultäten. Es wird ein ziemliches Ereignis werden, wie Sie sich denken können. Aber nun wollen wir von all dem Unsinn nicht weiter reden und uns an die Arbeit machen, ja?«
Während ich unter seiner Aufsicht vor mich hin wühlte, wurde mir allmählich leichter ums Herz. Eine Versöhnung zwischen den Direktoren der beiden feindlichen Fakultäten konnte sich nur positiv auswirken. Wenn dies Aldos Verdienst war, hatte ich ihn falsch eingeschätzt. Vielleicht war seine Ansprache an die WW-Studenten doch nur ein listig hingeworfener Köder gewesen, um Festival-Freiwillige zu werben, und weiter nichts.
Zwar registrierte ich jedes seiner Worte und jede seiner Gesten mit viel Empfindsamkeit, aber über seine Leistungen für das Festival wußte ich bis heute konkret eigentlich so gut wie nichts. Signora Butali, wie Carla Raspa, hatten sich begeistert über den Realismus der Darbietungen geäußert. Signora Butali und auch der Präsident hatten im letzten Jahr, zusammen mit Professor Rizzio, mitgewirkt. Ob die diesjährige Schau wirklich so ganz anders ausfallen würde?
Zum Mittagessen ging ich in die Pension, wo meine Gefährten von gestern abend sofort über mich herfielen.
»Deserteur … Feigling … Verräter«, schrien Gino und seine Freunde durcheinander, bis Signor Silvana mit einer Handbewegung zur Ruhe mahnte und drohte, er und seine Frau würden die ganze Bande notfalls auf die Straße setzen.
»Auf dem Festival schreit euch von mir aus heiser«, erklärte er, »aber nicht in meinem
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