Das Geheimnis des Felskojoten (German Edition)
wolkenlosen Himmel, und es wurde von Minute zu Minute heißer. Der Weg schlängelte sich zwischen knorrigen Kiefern entlang, immer weiter den Hang hinauf. Der Wind rauschte in den Zweigen und Ästen der Bäume und brachte sie zum Singen. Ihr stetes, sehnsuchtsvolles Lied begleitete Serena und Shane auf ihrem Weg nach oben.
»Reena«, begann Shane, »es tut mir leid, dass ich dich vorhin ein bisschen auf den Arm genommen habe.«
Serena blieb stehen.
»Warum nennst du mich eigentlich immerzu Reena ?«
»Nur ein Kosename, um das Eis zu brechen«, erklärte er ernst. »Gefällt er dir nicht? Dann nenne ich dich ab sofort nur noch Serena.«
Sie sah ihn forschend an. Etwas in der Art und Weise, wie er mit ihr sprach, und die Ungezwungenheit, die er ihr gegenüber zeigte, verwirrten sie. Und irgendwie schaffte er es andauernd, dass sie errötete und verlegen wurde. Das entsprach normalerweise ganz und gar nicht ihrem Wesen.
»Nein, nein«, wehrte sie schnell ab und errötete schon wieder. »Nenn mich ruhig Reena, wenn du magst.«
Eigentlich mochte sie keine Kosenamen. Und auf Deutsch hörte sich Reena auch wirklich nicht so toll an. Aber wenn Shane mit seiner tiefen Stimme und seinem amerikanischen Akzent Reena sagte, dann war es etwas ganz anderes. So wie er es aussprach, klang es weich und sanft, ganz so, als meinte er jemand anderen, nicht sie. Und irgendwie gefiel Serena das.
»Also, Reena, verzeihst du mir dann wegen vorhin?«, fragte Shane.
»Warum ist dir das auf einmal so wichtig?«
»Weil wir uns an einem heiligen Ort befinden. Wenn wir hierherkommen, sollten wir keine negativen Gefühle in unseren Herzen tragen.«
Serena wog seine Worte ab.
»Ich verzeihe dir – wenn du auch mir verzeihst.« Sie lächelte und streckte ihm die Hand entgegen.
»Dann ist ja alles klar.« Shane schüttelte ihre Hand, und sie setzten ihren Weg fort.
Insgeheim war Serena mehr als erleichtert darüber, dass Shane Storm Hawk so unerwartet am Bear Butte aufgetaucht war. Sie wollte ihm das gerade sagen, als etwas am Wegesrand ihre Aufmerksamkeit auf sich zog.
»Was sind das für seltsame Bänder, Shane?«, erkundigte sie sich und deutete auf unzählige Schnüre, die an Bäumen und Büschen entlang des Pfades hingen. Winzige bunte Stoffbündel baumelten an ihnen.
»Das sind prayer ties «, erklärte Shane. »Man nimmt etwas Tabak und Salbei und spricht ein Gebet. Dann wickelt man die Gaben in ein kleines Stück Stoff und befestigt das Bündel an einer Schnur. Und dann noch eins und noch eins, bis die Schnur voll ist.« Er machte eine ausholende Handbewegung. »Jedes kleine Bündel, das du entlang des Weges siehst, ist ein Gebet und eine Gabe an Great Spirit , den Großen Geist. Weiter oben werden wir noch viel mehr davon sehen.«
Serena war beeindruckt. Sie hatte schon oft in der Kirche eine Kerze entzündet, um ihrem Gebet mehr Kraft zu geben. Auch für Fabian zündete sie regelmäßig eine an. Dabei bat sie Gott, seine Hände schützend über ihn zu halten. Prayer ties oder Kerzen – der Gedanke, der dahintersteckte, war der gleiche, und das war es, was zählte.
Sie waren jetzt gute zwanzig Minuten unterwegs und näherten sich dem Gipfel des Berges. Serena war noch immer in die Betrachtung der prayer ties vertieft. Da nahm sie ganz unvermittelt eine Bewegung hinter einem niedrigen Busch wahr. Sie sah genauer hin und tat erschrocken einen Schritt zurück.
»Oh mein Gott, Shane, ein Wolf!«, rief sie und drängte sich schutzsuchend hinter ihn. Gleichzeitig zückte sie ihre Kamera und fotografierte drauflos.
»Sei gegrüßt, Bruder.« Shane nickte dem Tier wohlwollend zu. »Was machst du denn da?«, wandte er sich dann an Serena und konnte das Lachen nicht unterdrücken.
»Tut mir leid«, sagte Serena. »Ich kann nicht aus meiner Haut, auch nicht in brenzligen Situationen. Ich bin Fotografin.«
»Fotografin, hm«, wiederholte Shane nachdenklich. Davon hatte Fabian nichts gesagt.
»Damit du später deine Fotos nicht falsch beschriftest: Das ist kein Wolf. Das ist ein Kojote. Er wird dir nichts tun. Dies ist ein heiliger Ort.«
»Das sagst du so«, meinte Serena zweifelnd. »Sieh doch nur, wie groß er ist.«
»Reena, das Tier ist noch nicht einmal ausgewachsen.«
Schön, dachte Serena, dann ist es eben ein junger Kojote und kein Wolf . Aber das machte für sie kaum einen Unterschied. Was immer es war, es sah bedrohlich aus.
Der Kojote blickte Serena mit seinen dunklen, knopfrunden Augen unverwandt an. Sein Gesicht
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