Das Geheimnis des Feuers
ein Bad«, sagte Doktor Raul. »Sie ist so schmutzig. Ich glaube, du kannst dir gar nicht vorstellen, was für einen langen Weg sie auf ihren Krücken zurückgelegt hat.« Dolores sagte nichts mehr. Doktor Raul ging hinaus und holte Sofia. Als Dolores sie sah, war sie nicht mehr so gereizt. Das Mädchen war wirklich sehr schmutzig. Und es sah müde und traurig aus.
»Armes Kind«, murmelte Dolores. »Warum muss das Leben nur so schwer sein?«
Sofia bekam zu essen. Doktor Rauls Kinder musterten sie abwartend. Sofia war verlegen und schlug die Augen nieder. Das Essen schmeckte ungewohnt. Aber sie hatte großen Hunger. Sie war es nicht gewohnt, mit einem Eöffel zu essen. Normalerweise aß sie mit den Fingern. Aber sie dachte, es wäre das Beste, wenn sie sich genauso verhielt wie die anderen am Tisch.
Nach dem Essen ließ Dolores Badewasser ein. Als Sofia ins Bad kam, wurde sie ganz still. Noch nie hatte sie ein Badezimmer gesehen. Es war größer als die ganze Hütte im Dorf außerhalb von Boane. Glänzend und blank, mit fließendem Wasser, elektrischem Licht, Handtüchern, duftenden Seifen. Nirgends sah sie ein Feuer. Und trotzdem war das Wasser warm. Dolores zeigte ihr, was sie tun sollte, und ließ sie allein. Sofia zog sich aus, schnallte die Beine ab und hievte sich über den Rand der Badewanne, hinunter in das warme Wasser. Ihr schien, dass sie noch nie etwas so Schönes erlebt hatte. Sie schloss die Augen und dachte ans Meer, das sie einmal gesehen hatte. Das Salzwasser war nicht so warm gewesen. Trotzdem stellte sie sich vor, sie läge im Meer und schaukelte auf den Wellen. Ohne dass sie es merkte, schlief sie ein. Als Dolores ins Badezimmer schaute, schlief Sofia. Ihr Kopf ruhte an dem gekachelten Rand. Dolores betrachtete sie. Die Beinstümpfe waren deutlich im Wasser zu sehen. Dolores schüttelte den Kopf und weckte Sofia vorsichtig. »Du hast geschlafen«, sagte sie. »Wasch dich, solange das Wasser noch warm ist.«
Hinterher, nachdem Sofia sich abgetrocknet und die Beine angelegt hatte, kam Doktor Raul sie holen. »Jetzt musst du schlafen«, sagte er. »Morgen reden wir darüber, wie es weitergehen soll.«
»Ich kann nicht bei Lydia bleiben«, wiederholte Sofia. Doktor Raul nickte. »Darüber reden wir morgen«, sagte er. »Nicht jetzt.«
Sofia lag in einem Bett. Es stand in Doktor Rauls Arbeitszimmer. Ein Zimmer voller Bücher und mit einem Tisch voller Papiere und Zeitungen. Durch das Fenster fiel Licht von einer Straßenlaterne. In der Ferne konnte Sofia Stimmen hören. Das waren Dolores und Doktor Raul, die sich unterhielten. Es gab ihr Geborgenheit. Auch wenn sie allein war in dem Zimmer mit all den Büchern, gab es Menschen in der Nähe. Sie schloss die Augen und schob alle Gedanken beiseite. Bald schlief sie.
Dolores und Doktor Raul tranken Kaffee und unterhielten sich darüber, was mit Sofia geschehen sollte. »Sie muss wieder nach Hause«, sagte Dolores. »Wir können ihre Probleme nicht lösen.« Doktor Raul wusste, dass seine Frau Recht hatte. Aber gleichzeitig bezweifelte er, dass Sofia seinen Rat befolgen würde. Sie war den weiten Weg von Boane gekommen, sie war in der unerträglichen Hitze vorwärts gehüpft auf ihren Krücken und hatte nicht aufgegeben. Und er begriff, dass die Kraft, die in ihr war und die ihr geholfen hatte zu überleben, dass diese Kraft sich jetzt weigerte, mit einem Stiefvater zu leben, der sie auslachte, wenn sie hinfiel, und dass diese Kraft viel größer war, als er geahnt hatte. Doktor Raul stellte die Kaffeetasse hin. »Ich werde mit Sulemane reden«, sagte er. »Einige Tage kann sie bleiben«, sagte Dolores, »aber nicht länger.«
Sulemane saß bei der Pforte und reparierte seine Schuhe. Sein schwarzes Gesicht war kaum zu erkennen in der Dunkelheit. Doktor Raul hatte einen Gartenstuhl mitgenommen und setzte sich. Der Abend war mild. Doktor Raul erzählte Sulemane von Sofia, während Sulemane unbeeindruckt seine Schuhe reparierte. Die Stiefelsohlen hatten sich gelöst. Sulemane hatte einen Hammer und schlug die kleinen Nägel fest. Doktor Raul wunderte sich, dass er in der Dunkelheit überhaupt etwas sehen konnte. Nachdem Doktor Raul verstummt war, saßen sie still da. Nur Sulemanes Hammer war zu hören. Doktor Raul wusste, dass Sulemane erst einmal über das nachdachte, was er gesagt hatte. Erst wenn Sulemane sich eine eigene Meinung gebildet hatte, würde er antworten. Eine Stunde verging. Sulemane nagelte seine Sohlen, Doktor Raul wartete.
Als die
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