Das Geheimnis des Feuers
auf. Doktor Raul tat, was er so viele Male getan hatte, als sie noch in ihrem Krankenhausbett lag. Er hockte sich vor sie hin. »Was ist passiert?«, fragte er.
»Ich konnte nicht zu Hause bleiben«, antwortete Sofia.
Doktor Raul ließ ihre Antwort auf sich wirken. Warum hatte sie nicht zu Hause bleiben können? Das klang merkwürdig in seinen Ohren. Die afrikanische Familie verstieß nie jemanden, wie arm die Familie auch sein mochte oder wie entfernt verwandt die Person auch sein mochte, die ihren Platz am Feuer verlangte. Schließlich tat er das Einzige, was ihm zu tun blieb. Er setzte sich neben Sofia und lehnte den Rücken gegen das Auto.
»Erzähle«, sagte er. »Erzähl mir, was passiert ist.« Sofias Worte kamen abgehackt, als ob sie sie unter großen Schmerzen hervorpresste.
Sie erzählte von Isaias, wie er aus der Dunkelheit gekommen war und wie er ihr eines Tages den Besen aus der Hand gerissen hatte, sodass sie umgefallen war. Doktor Raul hörte zu und wusste, dass vermutlich stimmte, was sie erzählte. Natürlich konnte sie übertreiben, das taten Kinder oft. Nicht zuletzt arme Kinder, deren einziger Überfluss darin bestand, dass sie ihr Elend übertreiben konnten. Es war auch nicht das erste Mal, dass er eine Geschichte wie Sofias hörte. Sie teilte ihr Erlebnis mit unzähligen anderen Kindern. Er dachte, das Schlimmste an der Armut war, dass sie die Menschen zwang etwas zu tun, was sie nicht wollten. Lydia brauchte wohl einen Mann, der ihr half. Aber wenn der Mann da war, musste sie gehorchen. Und oft wollten die Männer nichts von den früheren Kindern der Frau wissen. Und das musste erst recht für ein Mädchen wie Sofia gelten, einem Mädchen, dem die Beine abgerissen worden waren, das sich nur auf Krücken vorwärts bewegen konnte. Er lauschte ihren Worten und begriff allmählich, was passiert war.
Sie war in die Stadt zurückgekehrt, weil sie nicht im Dorf bei ihrer Mutter bleiben konnte. Und der Einzige, an den sie sich wenden konnte, war der Arzt, der sie gesund gemacht hatte.
Sofia ist immer noch meine Patientin, dachte er. Und er konnte sie nicht einfach auf der Straße lassen. Dort würde sie bald untergehen. Dort würde sie schikaniert und gejagt werden, geschlagen und missbraucht von den anderen Kindern und Erwachsenen, die auf den Straßen lebten. Ihre Krücken würden gestohlen werden und ihre Beine auch. Sie würden irgendwo anders in der Stadt auftauchen, auf einem Markt, wo sie zum Verkauf angeboten werden würden. Sofia würde hungern und sie würde krank werden, Krätze, Husten, Malaria könnte sie bekommen. Eines Tages würde sie tot unter einem schmutzigen Pappkarton liegen. Niemand würde wissen, wer sie war. Sie würde in einer der großen Gruben begraben werden, die regelmäßig am Rand der Friedhöfe ausgehoben wurden, Armengräber, in die die Körper geworfen wurden, ohne Särge, ohne Priester, ohne irgendetwas. Ungefähr wie man Abfall morgens in die Tonne vor seinem Haus wirft.
Er dachte an seine Frau Dolores und fragte sich, was sie sagen würde, wenn er mit Sofia nach Hause kam. Aber er hatte keine andere Wahl. »Du kommst mit mir nach Hause«, sagte er, »und dann entscheiden wir, was zu tun ist.« Sie erhob sich ohne ein Wort und setzte sich auf den Rücksitz. Diesmal startete das Auto, ohne dass es angeschoben werden musste.
Doktor Raul wohnte in einem eingeschossigen Haus. Das Haus hatte einen kleinen Garten. Versteckt hinter einigen Bäumen ganz hinten im Garten war ein kleiner Schuppen, in dem sein Nachtwächter Sulemane wohnte. Oft, wenn Doktor Raul Probleme hatte, sprach er mit Sulemane, der alt und klug war. Er war kein guter Nachtwächter, denn er lag nachts, wenn er eigentlich hätte wachen sollen, bei der Pforte und schlief. Mehrere Male war es passiert, dass Doktor Raul ihn wecken musste, wenn er spät mit dem Auto heimkam. Dolores war böse auf ihn, weil er Sulemane nicht hinauswarf und einen Nachtwächter einstellte, der sich wenigstens wach hielt. Aber Doktor Raul wollte nicht auf Sulemane verzichten. Nicht zuletzt, weil er ihm oft kluge Ratschläge gab. Als sie nach Hause fuhren, überlegte er, dass er mit Sulemane über Sofia sprechen sollte. Vielleicht wusste er, was nun zu tun war.
Doktor Raul ließ Sofia im Auto sitzen, während er ins Haus ging und Dolores erzählte, dass er eine seiner Patientinnen mitgebracht hatte. »Sie hätte doch wohl im Krankenhaus schlafen können«, sagte Dolores. »Warum musstest du sie mitbringen?«
»Sie braucht
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