Das Geheimnis des Feuers
stand und ihr durch dicke Brillengläser entgegenblinzelte. »Komm näher, damit ich dich sehen kann«, sagte sie. Sofia hüpfte vorsichtig auf ihren Krücken näher zu Fatima heran. Als sie die Treppe erreichte, drehte Fatima sich um und machte ihr gleichzeitig ein Zeichen, ihr ins Haus zu folgen. Mit Hilfe der Krücken arbeitete Sofia sich die Treppe hinauf. Als sie in das Haus kam, war es, als beträte sie eine ganz andere Welt. Das Haus war voller Vögel. Überall hingen Käfige, große, kleine, viereckige, runde; Käfige aus Holz, aus Gras, aus Stoff. Überall zwitscherten, riefen und schrien farbenprächtige Vögel. Sofia blieb stumm auf der Schwelle stehen. Es gab auch Vögel, die frei im Zimmer herumflogen. Eine silberglänzende Taube setzte sich auf ihre Schulter und begann in ihrem Haar zu zupfen. Fatima war in einem angrenzenden Zimmer verschwunden, aber sie kam zurück um zu sehen, wo Sofia blieb.
»Du hast doch hoffentlich keine Angst vor Vögeln?«, fragte sie. »Dann kannst du nicht bei mir arbeiten.«
Sofia schüttelte den Kopf. Sie hatte keine Angst vor Vögeln. Sie war nur so überrascht ein Haus zu betreten, in dem mehr Vögel als Menschen wohnten.
»Ich habe immer davon geträumt, eines Morgens mit Flügeln auf dem Rücken zu erwachen«, sagte Fatima. »Das wird wohl nie geschehen. Deswegen umgebe ich mich stattdessen mit Vögeln. Tausend Flügel, die flattern und schwingen und sich gegen graue und blaue Himmel erheben.«
Sie gab Sofia ein Zeichen, ihr ins nächste Zimmer zu folgen. Es war groß und rund und hatte hohe Fenster. Noch nie war Sofia in einem so großen und hellen Raum gewesen. Mitten im Zimmer stand ein großer Nähtisch mit mehreren Nähmaschinen. An den Wänden waren Regale, in denen verschiedenfarbene Stoffe lagen. Und überall im Raum verteilt standen Puppen, so groß wie Menschen. Die Puppen, die Sofia mit starren Augen anschauten, waren mit Stoffen und halb fertigen Kleidern behängt. Fatima lachte.
»Wenn du genug geguckt hast, kannst du dich auf den Hocker da setzen«, sagte sie. »Und dann fangen wir an zu arbeiten.«
Sofia war es, als ob sie in Fatima eine Schwester von Muazena getroffen hätte. Obwohl sie jünger und dicker als Muazena war, schien sie doch die gleichen geheimnisvollen Kräfte zu haben, wie Muazena sie besessen hatte. Sie konnte Geschichten erzählen, sie konnte erklären, und die ganze Zeit nähte sie unablässig, auf die gleiche Weise, wie Muazena unablässig in der trockenen Erde gehackt hatte, um Pflanzen zu setzen oder Unkraut zu jäten. Während Sofia bei Fatima zwischen den Vögeln saß und Stoffe in Kleider verwandelt wurden, war ihr, als ob die Zeit stillstände. Fatima war eine strenge Lehrerin. Sie wurde böse, wenn Sofia schlampig arbeitete oder nicht das tat, was Fatima ihr gesagt hatte. Aber Sofia fiel auf, dass sie niemals ihre Stimme erhob oder ohne Anlass seufzte oder stöhnte. Außerdem lobte sie Sofia, wenn sie etwas gut gemacht hatte. Vor allen Dingen lehrte sie Sofia das Geheimnis der Nähnadel.
Eines Abends arbeiteten sie weiter, obwohl es schon dunkel geworden war. Sie nähten an einem Brautkleid aus weißer Seide, das bis zum nächsten Tag fertig werden musste. Fatima hatte gesagt, Sofia könne bei ihr schlafen, wenn sie fertig waren. Sie hatte einen Jungen angestellt, der alle Vogelkäfige sauber machte. Ihn schickte sie mit der Nachricht zu Hermengarda, dass Sofia erst am nächsten Tag nach Hause kommen würde. Es wurde spät. Der Abend ging in die Nacht über, ehe das weiße Kleid endlich fertig war. Fatima nickte zufrieden und legte einen Arm um Sofias Schultern. »Schöner wird es nun nicht mehr«, sagte sie. Dann tranken sie draußen auf der Veranda Tee. Die Vögel in ihren Käfigen waren still, durch das Schweigen strich ein schwacher Wind. Fatima und Sofia saßen nebeneinander auf einer Bank, die schaukeln konnte.
Sie balancierten die ungleichen gesprungenen Tassen in ihren Händen. «Mir hat ein alter Mann das Nähen beigebracht«, sagte Fatima plötzlich. Ihre Stimme war leise, als ob sie die Stille um sie herum nicht stören wollte. »Er hat mir beigebracht, dass sich alles im Leben um Nähte dreht«, fuhr sie fort. »Es sind Nähte, die alles miteinander verbinden. Zwischen Menschen gibt es unsichtbare Nähte. Unsere Erinnerung näht unsere Träume mit den Gedanken fest, die wir denken, wenn wir wach sind. Wenn man klug werden und lernen will Menschen zu mögen, muss man nähen. Du kannst deine Sehnsucht und deine
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