Das Geheimnis des goldenen Salamanders (German Edition)
Wenn sie einen Bruder hätte, würde sie genauso handeln.
»Du findest ihn sicher wieder«, tröstete sie ihn.
Auf der London Bridge war so viel Betrieb, dass sie nur noch im Gänsemarsch gehen konnten. Schweigend drängten sie sich durch den Trubel. Alyss staunte jedes Mal wieder, dassdie Brücke auf beiden Seiten von Wohnhäusern und Läden gesäumt war. Die Bauten hingen gefährlich über den Rand, und die obersten Stockwerke berührten sich, sodass man das Gefühl hatte, durch einen Tunnel zu gehen. An manchen Stellen war sie jedoch unbebaut und man konnte auf den Fluss blicken. In östlicher Richtung waren da die hohen Masten der Segelschiffe zu erkennen, mit Matrosen winzig wie Ameisen. Dort lag der Hafen mit den Werften und Docks, an denen die großen Handelsschiffe ankerten. Auch die Aurora , das Schiff ihres Vaters, war von dort in die Neue Welt gesegelt.
»Du meine Güte! Guck dir die Strömung an!« Alyss war neben dem Brückengeländer stehen geblieben und blickte schaudernd auf das sprudelnde Wasser hinab. Eine Holzplanke hüpfte auf und ab und wurde schließlich von den Wellen verschluckt. Unwillkürlich musste sie dabei an das Schiff ihres Vaters denken.
Jack drängte sie weiterzugehen. Sein sommersprossiges Gesicht, ohnehin blass, war auf einmal käsebleich.
»Ist dir nicht gut?«
»Mein Vater ist dort unten ertrunken.«
»Unter der Brücke?«
Jack nickte. »Er war ’n Fährmann. Ist ’ne riskante Sache, mit ’nem Boot unter der Brücke durchzufahren. Sein Kahn ist gekentert.« Er trat auf die Seite, um einen Reiter vorbeizulassen, der aus der anderen Richtung kam, und schritt dann eilig weiter. Alyss wollte ihn einholen, doch zwei junge Frauen kamen ihr in die Quere.
»Mein Vater ist wahrscheinlich auch ertrunken«, sagte sie leise, als endlich wieder genug Platz war, um neben dem Jungen zu laufen.
»Was? Unter der Brücke?« Jack starrte sie an.
»Nein, im Ozean.«
Alyss hatte keine Ahnung, was sie überkam, doch plötzlich verspürte sie das Bedürfnis, sich dem Jungen anzuvertrauen. Immerhin hatte auch er ihr seine Probleme erzählt. Sie berichtete ihm von ihrem Vater, vom Salamander und von Onkel Humphrey mit seinen ekelhaften Söhnen, der sie aus dem Weg schaffen wollte. Sie gestand Jack sogar, dass sie nicht Al, sondern Alyss hieß und kein Junge, sondern ein Mädchen war.
»Ein Mädchen?« Er musterte sie von der Seite, während sich ein breites Grinsen über sein Gesicht zog. »Du und Moll, ihr gäbt ’n tolles Team ab.« Dann wurde er wieder ernst. »Allerdings würde es mich schon interessieren, wieso die alle so scharf auf deinen Salamander sind.« Aber diese Frage konnte auch Alyss nicht beantworten.
Mittlerweile hatten sie die andere Flussseite erreicht. Obwohl Alyss das Verrätertor hasste, konnte sie nicht umhin, an der Fassade hochzublicken. Die verzerrten Fratzen der geköpften Verräter gafften mit ihren leeren Augenhöhlen auf das Treiben auf der Straße hinab. Die Sonne tauchte kurz zwischen den Wolken auf und bestrahlte die Gesichter. In der anderen Richtung, ein Stück die breite Straße entlang, konnte man die Zelt- und Budenstadt des Jahrmarkts sehen.
»Wohin gehst du jetzt?«, fragte Jack.
»Zurück zu Sassa und den anderen.« Sie wusste nicht, wohin sie sonst hätte gehen sollte. Hoffentlich würden ihre neuen Freunde sie noch eine weitere Nacht beherbergen. Das Zelt der Schausteller war in den vergangenen Tagen fast zu einem Zuhause für sie geworden. Sie würde dort warten, bis Sir Christopher von seiner Reise zurückkam.
»Meinst du, das ist ’ne gute Idee, zurück zum Wilden zu gehen?«, warf Jack ein. »Ich kenne jemanden, der ist überzeugt, dass die Jahrmarktsleute hinter den verschwundenen Kindern stecken.« Er überlegte. »Du könntest mit mir zu Moll kommen. Auf unserem Dachboden ist immer Platz.«
Alyss lächelte. Im Grunde sollte ihr dieser Junge unsympathisch sein. Immerhin hatte er ihren Salamander gestohlen. Aber eigentlich fand sie ihn richtig nett.
»Mach dir mal keine Sorgen«, meinte sie. »Die drei aus der Raritätenschau sind meine Freunde. Die tun mir nichts.«
»Trotzdem«, erwiderte Jack, »falls du deine Meinung änderst, komm zu uns.« Er strich sich seine Haare, die ihm wieder in die Stirn gefallen waren, hinter die Ohren. »Moll ist gar nicht so schlimm.«
»Danke, mach ich«, erwiderte Alyss, obwohl ihr die Frau in Männerhosen unheimlich war. »Ich muss sowieso morgen dort vorbei. Sie hat ja versprochen, meinen
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