Das Geheimnis des Goldmachers
Land
führte.
Am nordwestlichsten Ende des
Steinwalls angekommen, lag einige Fuß voraus das Paulstor. Hier bogen sie in
nördlicher Richtung ab und entfernten sich im rechten Winkel von der Domstadt.
Die Steigung des Weges nahm zu, denn inzwischen handelte es sich um eine
ordentliche Anhöhe, die vor ihnen lag. Und jetzt bereits, noch weit voraus auf
einem sanften Hügel, umgeben von einem dichten Hagenwall aus Baum- und
Buschwerk, zeigte sich ihnen St. Michaelis mit seiner wuchtigen Pracht.
»Bei Allah, was für eine herrliche
Kirche, prächtig wie eine Kathedrale«, sagte Osman, und er wirkte in der Tat
beeindruckt.
»Der Dom kann sich durchaus auch
sehen lassen, bei St. Michaelis handelt es sich jedoch um eine Klosterkirche.
Errichten ließ sie gute zweihundert Jahre zuvor Bischof Bernward. Er war ebenso
Stifter des zuvor dort bereits befindlichen Benediktinerklosters und des Doms.
Sein unermüdlicher Eifer trug dazu bei, dass Hildesheim gemeinhin als die Stadt
der Kirchen bezeichnet wird.«
Nun war der Mönch und Gelehrte
ganz in seinem Element, begeistert fuhr er fort, während sich die Kirche immer
größer vor ihnen aufbaute.
»Seht nur die durchdachte
Konstruktion! Der gesamte Grundriss der Kirche ist in gleichgroße Quadrate
aufgeteilt. Schaut auf die beiden eckigen Türme links und rechts. Das mittige
Kirchenschiff hat exakt die gleiche Grundfläche wie drei der Türme
nebeneinander. Doch das ist beileibe nicht alles. Seht die vier im rechten
Winkel von den Türmen abgehenden seitlichen Querhausarme. Auch sie haben eine
quadratische Grundfläche, identisch groß wie die der Türme. So besteht der
Grundriss von St. Michaelis also aus neun Quadraten gleicher Größe, angeordnet wie
ein H – drei jeweils für die beiden Querhäuser mit den mittig platzierten
Türmen sowie drei für das Schiff, welches die Türme miteinander verbindet. Drei
mal drei, die Heilige Dreifaltigkeit zum Quadrat, vereint in einem Gotteshaus,
auf dass sie uns für immer und ewig allgegenwärtig bleibe, ein genialer Plan.
Die vier runden, zylindrischen Treppentürmchen schließlich bilden den
harmonischen Abschluss des Gebäudes. Ebenso rund wie die Türmchen ist ihr Dach,
so wie die Dächer der eckigen Türme selbstredend eckig sind, einer vierseitigen
Pyramide gleich. Weiß Gott, selbst Archimedes, der größte Mathematiker und
Geodät aller Zeiten, hätte die Kirche nicht klüger konstruieren können!«
Alberts Augen leuchteten vor
Begeisterung, und seine beiden Begleiter wurden angesteckt von der Euphorie,
mit der er die auserlesene Konzeption des Baumeisters erläuterte. Nun, nur noch
wenige hundert Fuß entfernt von dem Gotteshaus, das wie auf einer Empore
thronend auf einem sanften Hügel über der Stadt ruhte, zeigte sich auch ihnen
der göttliche Plan, der hinter dem Bau dieser Kirche steckte – drei mal drei
mal drei – der Vater und der Sohn und der Heilige Geist. Auch bewunderten sie
das abwechslungsreiche Spiel zwischen runden und eckigen Formen, welches dem
Bauwerk trotz seiner massiven, erdverwachsenen Gestalt einen erhabenen
Charakter verlieh.
»Wahrlich ein Juwel, Bruder
Albert«, hob Osman an, »der umso heller funkelt in Anbetracht der flachen
Holzhütten, die der Kirche zu Füßen liegen. Und ebendrum habe ich das Gefühl,
dass hierzulande sämtliche Energie und Kraft in die Konstruktion sakraler
Bauwerke fließt und der Rest vernachlässigt wird. Täusch ich mich oder steckt
vielleicht ein Fünkchen Wahrheit drin?«
Albert wirkte
nachdenklich, als er antwortete. »Ich war zwar nie im Orient, doch hab ich
Berichte gehört und Beschreibungen gelesen, welche überschwänglich die
Herrlichkeit Eurer Moscheen priesen. Ist es nicht so?«
»Ganz sicher sogar,
doch sind es halt nicht nur die Tempel und Gotteshäuser, denen unsere
Baumeister ihr Können widmen. Ihr solltet die Paläste unsrer Herrscher und die
Domizile der Kaufleute sehen, auch die Gärten und Brunnenanlagen sind eine
Pracht, ganz zu schweigen von öffentlichen Gebäuden wie den Bibliotheken oder
Badehäusern. Doch selbst die Häuser der einfachen Leute sind aus Stein oder
Lehm gebaut, und zumeist, zumindest in den Städten, sind sie nicht so flach wie
die Hütten hier, sondern verfügen über mehrere Geschosse. All das vermisse ich
in Eurem Land.«
»Dass die Häuser in
deiner Heimat nicht aus Holz gebaut sind, versteht sich von selbst«, meldete
sich der bislang stumm gebliebene Robert zu Wort, »denn du wirst mir sicherlich
recht geben, dass
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