Das Geheimnis des Himmels
– das ist ein Unterschied!“, entgegnete Barbara, die sich überhaupt nicht wohlfühlte. „Wie gut, dass Mutter nicht weiß, wo wir sind.“
„Da, hast du das gehört? Es klang wie ein kurzer Schrei!“
„O Gott, sie wird doch nicht …“, Barbara vollendete ihren Satz nicht. Die beiden sahen sich nur kurz an. Dann liefen sie, die Gefahren nicht beachtend, den Weg weiter, den Anna genommen hatte.
Endlich erreichten sie die Böschung, die die Sicht auf die Elbe freigab. Von Anna war nichts zu sehen. Sophia rutschte mit einem lauten Schrei aus, und schon war sie mit dem rechten Bein fast bis zur Hälfte im Wasser versunken. Die Strömung, die sich sogar hier noch stark bemerkbar machte, drohte sie mitzureißen. Barbara schrie auf und ergriff ihre Schwester. Sie konnte sie gerade noch fest an ihrem linken Arm fassen, während sie selbst verzweifelt versuchte, Halt auf dem rutschigen Gelände zu finden. Mit einem Ruck, der so kräftig war, dass Barbara auf ihren Rücken fiel, gelang es ihr, die jüngere Schwester aus der Gefahr zu befreien. Von Anna und ihrem roten Kleid war nichts mehr zu sehen.
Langsam robbten sie die Böschung wieder hinauf. Oben angekommen, wurde ihnen klar, dass sich ihre Schwester in großer Lebensgefahr befinden musste. Den Mädchen wurde schwindlig zumute. Sie wussten, hier konnten sie nichts mehr tun, jetzt mussten sie Rettung organisieren. Halb ohnmächtig vor Angst und völlig aufgelöst nach Anna schreiend, rannten sie zurück durch das Wäldchen zu den ersten Häusern der Stadt.
Sie trafen dort auf Kaspar Jungheinrich, der seine Ziegen vom Markt nach Hause trieb. Als er die völlig aufgelösten Mädchen sah, ahnte er, dass etwas Schlimmes passiert sein musste. Endlich gelang es ihm, aus den Wortfetzen, die zwischen dem Schluchzen hervorgestoßen wurden, die Situation zu erfassen. Er ließ sofort seine kleine Herde im Stich und lief zum Ortsvorsteher, der augenblicklich alle verfügbaren Männer zusammentrommelte, die sich auf die gefährliche Suche nach dem Mädchen machten.
Die Kirchenglocke, die bei Feuer, Wasser oder sonstigenUnglücken als Alarmgerät diente, wurde geläutet. Viele Bürger versammelten sich, teils aus Neugier, teils aus Bereitschaft, ihre Hilfe anzubieten. Für viele kam dieser Einsatz nicht ganz unerwartet. Jedes Jahr ertranken Menschen in der Elbe, nicht nur bei Hochwasser oder Eisgang. Der Fischreichtum des Flusses verführte viele Bewohner der kleinen Stadt dazu, selbst auf Fischfang zu gehen, auch wenn sie nicht gut ausgerüstet waren. Die Strömung der Elbe wurde oft unterschätzt, und die Aussicht auf ein gutes Mittagsmahl war verlockend. Schnell waren genügend Männer beisammen, sodass der Ortsvorsteher sie in Gruppen einteilen konnte, die an verschiedenen Stellen, vor allem aber flussabwärts, nach Anna suchen sollten.
Sophia und Barbara standen völlig in Tränen aufgelöst vor dem Haus des Ortsvorstehers. Keiner der zur Hilfe Eilenden konnte sich um sie kümmern.
„Mutter, was wird Mutter sagen?“, schluchzte völlig verzweifelt Barbara vor sich hin, während Sophia starr und stumm in sich versank.
Plötzlich spürte Barbara, wie sich ganz sanft eine Hand auf ihre Schulter legte. Sie blickte auf und erkannte trotz ihrer von Tränen verquollenen Augen, dass der Besitzer dieser Hand Friedrich war. Er sagte zunächst nichts und fragte dann ganz vorsichtig: „Kann ich Euch beiden helfen? Ich sehe Euch in einem aufgelösten Zustand.“
Ohne ein Wort zu sagen und ohne an die sonst gebotene Schicklichkeit zu denken, warf sich Barbara an Friedrichs Hals und schluchzte. Nach einer Zeit brachte sie es fertig, stockend von dem Unglück zu berichten – und dass sie sich nicht mehr nach Hause trauten.
„Wenn Ihr gestattet, werde ich Euch und Eure Schwester nach Hause begleiten. Wenn Ihr wollt, werde ich Eure Mutter von dem Unglück unterrichten“, sagte er mit seiner ruhigen, mitfühlenden Stimme.
„Ich traue mich nicht mehr heim. Nie mehr“, schluchzte Barbara weiter.
„Ich werde dafür sorgen, dass Ihr keine Angst haben müsst. Ich kenne Eure Mutter, sie wird Euch keine Vorwürfe machen“, versuchte Friedrich zu beruhigen. So gelang es ihm, sie aus ihrer scheinbar unentrinnbaren Selbstzerknirschung ein kleines bisschen herauszuholen.
„Woher wisst Ihr, wer ich bin, und woher kennt Ihr meine Mutter?“, unterbrach Barbara ihr Weinen.
„Denkt nicht, Ihr wäret mir damals, bei unserer kurzen Begegnung auf dem Markt, nicht im Gedächtnis
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