Das Geheimnis Des Kalligraphen
sich sicher, denn die Beziehung zu Asmahan hatte er längst auf Eis gelegt.
Almas schien sich bald beruhigt zu haben, blieb aber abweisend. Wenn er einmal alle vier Tage zu ihr kam, war ihm langweilig. Almas’ Eltern wurden ihm so unangenehm, dass er sie oft wütend nach Hauseschickte, doch manchmal empfand er ihr Getue sogar als Trost. Sie spielten den ganzen Tag den Clown für das Baby Nariman und waren Sklaven ihrer eigenen Tochter.
Meist ekelte ihn das Theater an. Er verlegte sein Schlafzimmer in den ersten Stock und überließ das Erdgeschoss der Herrschaft seiner Frau. Hier oben war er ungestört.
Almas nahm nach Narimans Geburt nicht ein Kilo ab und bewegte sich wie ein Samuraikämpfer. Nur ihr zauberhafter Duft und ihre Tochter erinnerten ihn schmerzhaft an ihre frühere Schönheit.
An einem Oktobertag trank er mit seinem Schwiegervater eine kleine Flasche Arrak mit Eiswasser auf der winzigen Terrasse vor der Mansarde. Es war sommerlich warm. Sie schauten über die Dächer der Stadt, die bei Sonnenuntergang langsam zur Ruhe kam. Taubenzüchter schickten ihre Schützlinge in die Luft und dirigierten sie mit Pfiffen von ihrem Dach aus, und die Vögel vollführten über der Altstadt weitläufige Kreise, akrobatische Sturzflüge und Drehungen. Der Geräuschteppich, der den Himmel über Damaskus füllte, wurde zu dieser Abendstunde leiser und melancholischer.
Sie aßen geröstete Erdnüsse, tranken den eisgekühlten milchigen Arrak aus zierlichen Gläsern und sprachen über Glück und Frauen, die diesjährige Ernte und den Suez-Krieg am Suezkanal.
Als die Flasche leer war und die Nüsse gegessen waren und sie sich alle Gerüchte und Geschichten erzählt hatten, machte sich der Schwiegervater auf den Weg zurück ins Erdgeschoss. Er sprach den Namen Gottes als Schutz, weil er die wacklige alte Holzleiter fürchtete, die von der Mansarde zur Wäscheterrasse im ersten Stock hinunterführte. Nassri trug die Stühle und den kleinen marmornen Tisch in die Mansarde, die nur aus einem Zimmer bestand, mit einem Fenster in Richtung Osten, gegenüber der Tür.
Dieses kleine Fenster gewährte einen Blick auf das benachbarte Haus. Zwar war der Winkel nicht günstig, aber er konnte das Fenster der Küche im Erdgeschoss und einen Teil des Innenhofes mit Springbrunnen und Bäumen sowie eine Abstellkammer im ersten Stock sehen.
Absichtslos blickte er durch die halb geschlossenen Läden seines Fensters – und da sah er sie. Sie badete gelassen und sang dabei fröhlich vor sich hin. Was für ein Anblick! Welche Schönheit! Nassri konnte sich nicht sattsehen und musste schlucken, weil ihn die Trockenheit seines Halses schmerzte. In diesem Moment rief seine Frau, er solle endlich zum Abendessen herunterkommen.
Er nahm weder das Essen noch die Gespräche wahr.
Am nächsten Morgen wachte er sehr früh auf, schlich sich hinauf zur Mansarde und beobachtete erneut das Nachbarhaus. Das Haus war absolut ruhig in der Morgendämmerung.
Die unbekannte Frau hatte von ihm Besitz ergriffen. Sie hatte ein feines Gesicht mit schönen großen Augen und war etwas kleiner als er und fast knabenhaft schlank. So eine Frau hatte er noch nie gehabt. Wer war sie? Warum war kein Mann im Haus? War sie Witwe? Oder eine von mehreren Frauen eines Mannes, der jede Woche nur einmal zu ihr kam?
Wer auch immer sie war, Nassri begehrte sie.
Er musste sich aber in Geduld üben, denn eine Reise mit Taufiq nach Saudi-Arabien, Jordanien und Marokko stand an, um wichtige Geschäfte abzuschließen. Seine Anwesenheit war unverzichtbar.
Zwei Wochen später trat er in einer bereits in die Jahre gekommenen Maschine der syrischen Fluggesellschaft den Rückflug nach Damaskus an. Sein Mitarbeiter Taufiq hatte traumhafte Aufträge in der Tasche und strahlte vor Zufriedenheit, während Nassri Abbani übernächtigt und schlecht gelaunt war.
Als Nassri sofort nach der Rückkehr in die Mansarde schlich, um nach seiner unbekannten Geliebten Ausschau zu halten, war die Frau wie vom Erdboden verschluckt. Wo war sie abgeblieben? Er würde ihr vorsichtig nachspionieren, ohne dass die eifersüchtige Almas etwas merkte.
Während er noch darüber grübelte, kam Almas die Treppe heraufgewalzt und wollte wissen, was er da oben zu tun hätte.
Die günstigste Zeit für ihn war während der Siesta. Dann schlief Almas felsenfest. Auch wenn Nariman weinte, hatte sie keine Chance, die Aufmerksamkeit ihrer Mutter zu bekommen. Sie musste sich selbstberuhigen, wenn die Großeltern
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