Das Geheimnis Des Kalligraphen
wie kleine Kinder. Sie sah den Bettler Tamer, den sie schon seit einer Ewigkeit vermisst hatte. Man erzählte Geschichtenüber sein plötzliches Verschwinden, doch da stand er plötzlich vor ihr, munter, gewaschen und gekämmt. Sein Gesicht war noch nass und seine Haare trieften. Tamer spielte vor dem Hidschasbahnhof auf seiner Nayflöte. Er spielte göttlich. Er war ein hoch angesehener Musiker des Rundfunkorchesters gewesen, bis irgendetwas ihn aus der Bahn geworfen hatte. Nun lebte er nur noch auf der Straße.
Wenn Tamer spielte und man beim Zuhören die Augen schloss, hörte man den Wind in der Wüste singen. An diesem Morgen drang die Melancholie seiner Flöte selbst durch den höllischen Lärm des von Schülern überfüllten Busses zu ihr.
Plötzlich dachte sie an ihr Tagebuch. Sie hätte bestimmt über den Bettler Tamer geschrieben, wenn sie das Heft nicht vor einer Woche verbrannt hätte. Bereits nach dem ersten Kuss von Salman schrieb sie selten Tagebuch und wenn, dann nicht mehr eindeutig und direkt. Ihr Geheimnis mit Salman durfte kein Mensch erfahren. Auch hatte sie kein Interesse mehr, über ihren Mann zu schreiben, also schrieb sie nur noch über ihre Zerrissenheit. Immer wieder hatte sie notiert, Salman nie wieder sehen zu wollen. Sobald es aber elf Uhr wurde, hoffte sie, dass er an diesem Tag etwas früher kommen würde. Eine animalische Kraft zog ihr Herz zu ihm. Sie fühlte nicht nur ein tiefes Verlangen, Salman zu beschützen, als ob er ein zerbrechliches Kind wäre, sein Geruch, der Geschmack seines Mundes und der Blick seiner Augen machten sie zudem körperlich so wild auf ihn, wie sie es zuvor weder gekannt noch gehört oder gelesen hatte. Sie behielt das Geheimnis für sich. Er musste auch nicht wissen, dass sie mehr als einmal gleich beim ersten Kuss im Paradies des Genusses geschwebt und dort wie im Rausch lange verweilt hatte. Danach schwor sie sich zum wiederholten Male Schluss zu machen. Ihr Verstand mahnte sie, dass diese Liebesaffäre einer verheirateten Muslimin mit einem Christen in einer Katastrophe enden müsste. Was sonst sollte aus dieser Liebe werden? Nura hörte die Frage nur so leise, wie wenn ein kleines Mädchen im Tumult eines wilden Volkstanzes nach der Uhrzeit fragt.
Wie oft hatte sie sich auf ein vernünftiges Gespräch mit ihm vorbereitet, bei dem sie alle Gründe ruhig und sachlich ausführen wollte, die gegen dieses tierische Verlangen sprachen, doch sobald er an der Türklopfte, änderte sie ihren Beschluss: Sie werde es ihm später sagen, wenn sie entspannt und weich vor Erschöpfung nebeneinander lagen, dann würde sie es fertig bringen. Doch wenn es so weit war, hatte sie es vergessen, »planmäßig vergessen«, wie sie damals in ihrem Tagebuch eingetragen hatte. Als das Tagebuch sie aber nur noch quälte wie ein gnadenloser Spiegel ihrer nicht eingehaltenen Entschlüsse und als sie einsehen musste, dass – obwohl sie Salman nicht namentlich nannte – ihn jeder nach zwei Zeilen erkennen würde, fand sie es leichtsinnig, sein Leben zu gefährden. Sie verbrannte das Heft in einer kupfernen Schale und legte die Asche um eine Rose.
Im Bus musste sie über ihre kindischen Entschlüsse lächeln, Salman nicht mehr sehen zu wollen. Nach fast einer Stunde erreichte sie ihr Ziel, drückte die Klinke des Gartentors nieder, wie Salman ihr gesagt hatte, und ging mit schnellen Schritten zum Haus. Plötzlich öffnete sich die Tür. Nura erschrak sich zu Tode, aber Salman lachte sie an und zog sie ins Hausinnere. Sie stolperte in seine Arme, und bevor sie noch aufatmen konnte, sank sie in seinen tiefen Kuss.
»Das Frühstück ist angerichtet, Madame«, sagte er, nahm ihr den Mantel ab und legte ihn in seiner Kammer auf den Stuhl.
Sie war zutiefst gerührt. In der Küche wartete ein liebevoll bereitetes Frühstück, Marmelade, Käse, Oliven, frisches Brot und Tee. Alles sehr bescheiden, aber es war das erste Frühstück ihres Lebens, das ein Mann ihr zubereitet hatte.
Salman merkte, dass Nura bewegt war, und wurde verlegen. Er wollte ihr so viel sagen, aber es gelang ihm nur der allerdümmste Satz: »Essen wir!« Auch Jahre danach ärgerte er sich darüber, dass von all den poetischen Eröffnungen, die er sorgfältig vorbereitet hatte, nur das dumpfe »Essen wir« geblieben war.
Wie oft sie sich an diesem Vormittag geliebt hatten, wusste er später nicht mehr. Salman küsste Nura noch einmal. »Wenn ich einmal gefragt werde, ob ich an das Paradies glaube, werde ich
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