Das Geheimnis des letzten Moa: Neuseelandsaga (German Edition)
Er soll meine Mutter wirklich geliebt haben. Und jetzt lassen Sie uns allein. Meinen Mann, meine Tochter und mich ...« Ihre Stimme wurde mit jedem Wort schwächer. Sie wandte sich James zu. »Und das Mädchen? Hast du mich belogen? Ist sie deine Tochter?«
James schüttelte energisch den Kopf. »Sie ist die Tochter von Freunden, die tödlich verunglückt sind. Wir haben sie damals als Baby adoptiert. Patricia glaubte, das würde unsere Ehe und ihr Leben retten, aber sie starb noch in demselben Jahr.«
Das Mädchen, von dem die Rede war, kämpfte mit den Tränen. Charles Wayne nahm sie bei der Hand und zog sie mit sich fort. »Komm, Norma, Patricia hat dich wie ein eigenes Kind geliebt. Und für mich bist du meine einzige Enkelin. Wir haben hier nichts mehr verloren.«
Barbra verzog keine Miene. Das, was sich gerade vor ihren Augen abspielte, war nichts weiter als ein böser Film. Sie würde gleich von ihrem Kinosessel aufstehen, das düstere Kino verlassen und nach draußen ins Licht gehen. Auch als Antonia nach ihrer Hand griff und sie in James Hand legte, wachte sie nicht aus ihrer Erstarrung auf, sondern ließ es teilnahmslos geschehen.
»Ich liebe euch«, stöhnte Antonia, bevor sie sich noch einmal aufbäumte und ihr Kopf leblos zur Seite kippte.
Barbra zeigte keinerlei Regung, während James weinte und schrie, Antonias Körper an sich drückte und ihr Gesicht mit Küssen bedeckte. Barbra fühlte sich immer noch wie erstarrt. In ihrem Inneren machte sich eine eisige Kälte breit. Ihre Zähne schlugen unkontrolliert aufeinander.
Das war der Moment, in dem James Henson seinen Blick von der toten Geliebten losriss, sie langsam auf den Boden gleiten ließ und Barbra ohne Vorwarnung in seine Arme nahm. Sie wollte schreien, sich wehren, ihn schlagen, doch kaum dass er sie umfasst hatte, wurde sie von einer alles wärmenden Geborgenheit umhüllt, die ihren Widerstand erlahmen ließ. Endlich kamen die befreienden Tränen, während James sie in seinen Armen wiegte wie ein kleines Kind. Dann stutzte sie und sah ihm mitten ins Gesicht. Und plötzlich wusste sie, wo sie diese Gesichtszüge schon einmal gesehen hatte. Vorhin, als sie sich selbst im Spiegel betrachtet hatte.
Sie riss sich aus seiner Umarmung los und stieß einen nicht enden wollenden Schrei aus.
Milton, Januar bis März 1936
Barbra sprach nicht viel, seit James Henson sie vor einem Jahr mit auf seine Farm nach Milton genommen hatte. Sie hatte Peter Stevensen allein in der Dunediner Villa zurückgelassen. Er sollte ihr Elternhaus hüten, solange sie auf der Farm lebte. »Ich komme bald wieder nach Hause«, hatte sie ihm versprochen.
»Und was soll ich mit der Sammlung deiner Eltern machen?«, hatte der treue Peter sie gefragt. »Ach, lass sie einfach im Keller stehen«, hatte Barbra geantwortet. Sie hoffte, er merkte nicht, wie gleichgültig ihr die alten Knochen waren. Das Einzige, was sie vom Moa mitgenommen hatte, war das Märchen. Barbra hatte es in der Nachttischschublade ihrer Mutter gefunden. Antonia hatte es selbst geschrieben, und Barbra las es beinahe jeden Tag, seit sie in Milton war. Und jeden Tag weinte sie aufs Neue. Sie vermisste nicht nur Arthur, sondern auch ihre Mutter schmerzlich.
Auf der Schaffarm war James der Einzige, mit dem sie überhaupt ein Wort wechselte, wenngleich sie sich hartnäckig weigerte, ihn Vater zu nennen. Sie zweifelte zwar nicht daran, dass er es wirklich war, denn dafür sprach ihre frappierende Ähnlichkeit mit ihm, aber für sie blieb Arthur ihr geliebter Dad.
Um Norma machte sie einen Riesenbogen. Das schien auf Gegenseitigkeit zu beruhen, denn wenn Norma ihr überhaupt einen Blick schenkte, dann glühte er vor Hass. Auch mit dem alten Mann wollte Barbra nichts zu tun haben, und wenn er zehnmal ihr Großvater war.
Manchmal hatte sie den Eindruck, dass es in dem großen schönen Haus zwei Parteien gab. James und sie auf der einen, Norma und den alten Charles auf der anderen Seite.
Bei den Familienessen, zu denen Barbra anwesend sein musste, gab es wenig Konversation. Doch die Blicke, die der Großvater und Norma einander zuwarfen, sprachen Bände. Nur James war stets bemüht, ein Gespräch in Gang zu bringen.
Barbra zuckte zusammen, als es an ihrer Zimmertür klopfte. Es war James, der ihr, wie so oft, einen kleinen Besuch abstattete.
»Na, mein Liebes, hast du einen schönen Tag gehabt?«, fragte er lächelnd.
Barbra verzog verächtlich ihr Gesicht. »Was kann man schon erleben inmitten
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