Das Geheimnis des letzten Moa: Neuseelandsaga (German Edition)
Tod meiner Mutter habe ich ihre Aufzeichnungen über das Drama der Evans-Frauen gefunden. Sie werden es nicht glauben, aber bestimmte Muster wiederholen sich von Generation zu Generation. Angefangen bei meiner Urgroßmutter Selma, einer ungewöhnlich starken Frau ...«
Es klopfte an der Tür. Die Professorin unterbrach sich und ließ Vanessa mit dem Tablett eintreten.
»Erzählen Sie ruhig«, bemerkte Grace trocken, nachdem Suzan Almonds Mitarbeiterin das Zimmer verlassen hatte. Die Professorin sah Grace verdutzt an.
Die lächelte ermutigend, während sie sich eine Tasse Tee einschenkte.
»Ja, Sie wollten mir doch von Ihrer Urgroßmutter erzählen. Und da ich beschlossen habe, zwei Wochen zu bleiben, sind wir nicht in Eile.«
»Das heißt, Sie werden bei mir wohnen?«
Grace seufzte. »Ich habe gesagt, ich will mit Ihnen arbeiten.«
»Nun sagen Sie schon ja. Dann können wir uns ausführlich unterhalten über das Leben ...«
»... und Sterben der Moas«, ergänzte Grace rasch. Ihr war es zwar ein wenig unheimlich, wie diese Frau sie in ihren Bann zog, aber andererseits fühlte sie sich nicht unwohl in ihrer Nähe. Warum sollte sie also nicht bei ihr wohnen? Außerdem lockten die Knochen im Keller und die Forschungen der Professorin. Grace blickte ihr Gegenüber herausfordernd an.
»Sie wollen also wirklich etwas hören über meine Geschichte, Grace?«
»Sicher, aber nur unter einer Bedingung: Wenn Sie mir danach die Sammlung zeigen.«
Suzan Almond lachte. »Natürlich. Und ich hoffe sehr, dass ich Sie mit meiner Geschichte dazu herausfordern kann, Ihrer eigenen auf die Spur zu kommen, denn es geht genau um Ihr Problem, um das Geheimnis der wahren Herkunft.«
Grace schüttelte energisch den Kopf. »Sie geben wohl nicht auf, was? Aber da haben wir etwas gemeinsam. Ich kann sehr, sehr stur sein, wenn ich etwas nicht will. Und herausbekommen, wer meine Eltern sind, das will ich ganz und gar nicht. Darum: Verschwenden Sie nicht weiter Ihre kostbare Energie. Aber ich höre nun einmal liebend gern Geschichten über ungewöhnliche, starke Frauen.« Suzan Almond warf Grace einen durchdringenden Blick zu. »Aber gern«, raunte sie mit rauer Stimme.
Auckland, Oktober 1883
Stolz fuhr die Hermione im Hafen von Auckland ein. Sie war noch ein klassischer Segler, jene Art von Auswandererschiff, die selten geworden war, seit sich die Dampfschiffe durchgesetzt hatten.
Die junge Selma Parker lag zusammengerollt in ihrer Koje und traute sich nicht aufzustehen, so geschwächt war sie. Sie dachte an Will. Wie hart hatte er gespart, damit sie die dreimonatige Überfahrt von London nach Auckland nicht eingepfercht im Zwischendeck mit den anderen Passagieren überstehen mussten! Es war ihrem Mann außerordentlich wichtig, dass sie unter sich sein konnten. Ein kleines Vermögen hatte Will für den abgeschlossenen Verschlag in der vorderen Kajüte ausgegeben, wo sie zu dritt schliefen: er, sein Bruder Richard und sie.
Ihr war immer noch entsetzlich übel von dem Sturm, der die Hermione letzte Nacht wie eine Nussschale vor sich hergetrieben hatte. Sie wunderte sich ein wenig, dass sie allein in der Kajüte lag, aber vermutlich waren die Brüder an Deck gegangen, um die bevorstehende Ankunft in der neuen Heimat zu feiern.
Selma lauschte angestrengt, aber es blieb ungewöhnlich still. Wahrscheinlich sind sämtliche Passagiere bereits oben, um endlich einen Blick auf den ersehnten Flecken Erde am anderen Ende der Welt zu werfen, mutmaßte sie.
Ihre Gedanken schweiften zu dem Streit ab, den sie gestern mit ihrem Mann ausgefochten hatte, bevor sich der Sturm zusammenbraute. Wie Kampfhähne hatten sich Will und sie auf dem Deck des Schiffes gegenübergestanden. Wieder einmal war es um seinen Bruder gegangen, der niemals merkte, wenn sie allein sein wollten. Immer störte er sie, wenn sie einander nahzukommen versuchten. So wie gestern Abend. Warum hatte er sich nicht diskret zurückgezogen und einen Rundgang über das Schiff gemacht, als Will zu ihr in die schmale Koje gekrabbelt war? Stattdessen hatte er seinen Bruder in ein Gespräch über die Farm verwickelt, die sie in Nelson kaufen wollten. Für diesen Traum von einem Neuanfang hatte Will die Farm seines Vaters nach dessen Tod verkauft, denn er war der alleinige Erbe. Aber Will hatte es nicht fertiggebracht, seinen Bruder, der vor dem Nichts stand, in England zurückzulassen.
Selma verstand partout nicht, warum Richard zum Dank dafür nicht wenigstens etwas einfühlsamer
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