Das Geheimnis des Nostradamus
Dachkammer, wo Nostradamus bis spät in die Nacht experimentierte. Sie stockte. Sollte sie ihn wirklich stören? Langsam öffnete sie die knarrende Holztür.
Nostradamus hockte gebückt auf einem dreibeinigen, eisernen Hocker. Sein Körper war schweißgebadet. Das Leinenhemd klebte in dunklen Flecken auf seiner Haut. In einem Kerzenleuchter dicht vor ihm brannte eine dicke Wachskerze. Das schimmernde Licht huschte aufgeschreckt über die Holzwände, zwängte sich in Nischen und wischte wie mit bleicher Hand über Stapeln von schweinsledernen Büchern und Folianten. Seine Augen waren starr aufgerissen. In seinen Pupillen spiegelte sich gewölbt der flackernde Kerzendocht.
»Die winzige Flamme steigt aus der Einsamkeit und lässt hervorsprießen, woran man nicht vergeblich glauben soll«, keuchte er wie unter schwerster Anstrengung.
In einer Hand hielt er einen Zweig, den er über einer Wasserschüssel kreisen ließ. Auf dem Grund der Schüssel waren in gotischer Schrift Buchstaben aufgemalt, die verzerrt durch das Wasser schimmerten. Seine nackten Füße hatte er in die Wasserschüssel gestellt.
»Die Wünschelrute in der Hand bin ich versetzt in das Reich des Branchus. Das Wasser netzt mir sowohl die Füße als auch den Saum… Durch die Zweige überkommt mich Furcht … Meine Stimme zittert … Göttliches Leuchten … Das Göttliche lässt sich bei mir nieder!«
Branchus? Wer war Branchus? Marie beobachtete vom Türspalt her, wie Nostradamus sich immer mehr in eine Art Trance versetzte. Seine Unterarme zuckten, als hätte ihn die Fallsucht überwältigt. Der Oberkörper blieb unbeweglich. Der Blick seiner starr geöffneten Augen schien in Welten ungeahnten Grauens einzudringen. Jetzt bäumte er sich auf und wankte ächzend auf seinen Arbeitstisch zu. Die nassen Füße wischten verworrene Schleifspuren über die Holzdielen, als wollten sie eine geheime Botschaft aufmalen. Nostradamus stöhnte laut auf und schlug mit den Armen um sich. Dann sackte er in sich zusammen und fiel auf die Holzdielen.
Marie stürzte auf ihn zu, schöpfte Wasser aus der Schüssel und benetzte sein Gesicht. »Monsieur Notredame«, rief sie und rüttelte ihn an den Schultern. Allmählich tauchte er aus seiner Besinnungslosigkeit wieder auf. Sein Blick war verschwommen, bis er Marie wie hinter Schleiern wahrnahm.
»Es ist gut, alles gut«, stöhnte er. »Gleich bin ich zurück!«
Marie schaute sich um. Da entdeckte sie ein kleines Buch, das aufgeklappt auf dem Boden lag. Auf dem ledernen Deckel stand: Die sibyllinischen Bücher. Vorsichtig nahm sie das Büchlein mit den alten Pergamentseiten hoch. Wie gut, dass ihr unbezähmbarer Wille, dem Arzt die Kunst des Lesens zu entlocken, Früchte getragen hatte. Was stand da? Atemlos las sie die Beschreibung, die Nostradamus gerade selbst an sich ausprobiert hatte: Unter dem Abschnitt »Das Orakel von Delphi« stand: »Pythia saß auf einem eisernen dreifüßigen Schemel, atmete schwefelartige Dämpfe ein und geriet dadurch in eine Art Trance.«
Schwefeldämpfe? Marie schnupperte und schüttelte den Kopf. Da fiel ihr Blick auf die dicke Wachskerze. Die Dämpfe hatte Nostradamus wohl durch den hypnotisierenden Blick in das Feuer ersetzt. Oder dampften aus dem Wasserbottich, über den er sich beugte, Essenzen? Marie schnupperte erneut, steckte den Finger in die Flüssigkeit und leckte daran. Aber sie war mit keinerlei Mitteln versetzt. Marie las weiter und stockte. Hier, da stand etwas über Branchus, den Nostradamus doch erwähnt hatte. »Der Halbgott Branchus war Sohn des Apollo und seiner sterblichen Geliebten aus Milet. Er konnte weissagen. Nach seinem Tod wurde seine Kunst von Jungfrauen, den Branchus-Dienerinnen, im Tempel in Milet fortgeführt: Sie setzten sich auf einen eisernen Dreifuß. Vor ihnen stand eine große runde Schüssel mit Wasser. Die Seherin stellte sich in das Wasser und beugte sich weit herunter, um den Duft einzuatmen, der ihm entstieg. Die Rute in der Hand begann dann, wie eine Wünschelrute beim Aufspüren von Wasser, zu hüpfen. Sie sprang von einem Buchstaben zum anderen, die kreisförmig am Boden des Gefäßes angebracht waren.«
Deshalb also Wasserschüssel und Wünschelrute!, dachte Marie. Aber was war das für ein Duft, den die Branchus-Dienerinnen einatmeten? Sie schaute sich neugierig um und entdeckte auf einem Holztisch umgeworfene Tiegel und Mörser. Kräuter lagen in einer Flüssigkeit zu grünbraunen Klumpen verklebt. Ob Nostradamus sich eine Mixtur
Weitere Kostenlose Bücher