Das Geheimnis des Rosenhauses - Roman
liegen«, fluchte Damiano. »Sonst könnte ich mich runterlassen und das Ding holen.«
»Wir haben Gürtel«, sagte Lulu.
»Die reichen nicht«, brummte Damiano nach einem abschätzenden Blick hinunter.
»Und Ralfs Leine.«
»Reicht immer noch nicht.«
»Aber schau, Anassia, äh, die Alte hat einen Strick zweimal um ihren Bauch gewickelt.«
»Hm.«
»Lass es uns versuchen!«
»Könnt ihr mich denn wieder raufziehen?«, fragte Damiano zweifelnd.
»Du musst ziehen«, ordnete Rafaela an. »Eine von uns geht runter!«
»Bumbum!«, rief Bumbum, aber das kam nun wirklich nicht infrage. Zwar war er der Leichteste, aber sie würden vor Angst sterben, wenn sie ihn über dem Abgrund baumeln sähen.
Kurz überlegten sie, ob Ralf ein geeigneter Kandidat wäre. Er war ein geschickter Kletterer, brauchte vermutlich nicht einmal ein Seil, doch er war leider nicht der Klügste. Er könnte das Kistchen in den Abgrund fallen lassen, dann wäre es für immer verloren.
»Ich gehe«, verkündete Lulu.
Damiano machte ein skeptisches Gesicht. Wanda auch.
»Du musst dich nicht verpflichtet fühlen, weil ich vorhin mit dir gemeckert habe«, sagte sie großzügig, »weil du Corina nicht gehört hast und so.«
»Das ist es nicht«, widersprach Lulu, obwohl es das zum Teil natürlich doch war. »Ich wiege nicht viel. Unser zusammengestoppeltes Seil wird bei mir nicht reißen. Und ihr könnt mich leicht wieder raufziehen.«
Niemandem war wohl bei der Vorstellung, Lulu selbst auch nicht. Ganz im Gegenteil, es war ein gruseliger Gedanke, in Clarisses Grab oder was ihr Grab hätte werden sollen, hinabgesenkt zu werden. Andererseits, wenn sie das Kistchen haben wollten, mussten sie es heraufholen. Und Lulu war wirklich die geeignetste Person für dieses Vorhaben.
Also verhakten sie alle ihre Gürtel, verknoteten sie mit Ralfs Leine und Anassias Strick. Damiano riss und zerrte an dem zusammengeknüpften Seil, um zu prüfen, ob es hielt, dann band er es Lulu um die Brust und ließ sie langsam hinab.
Mit dem Feuerzeug in der Hand sah Lulu den Boden des Vorsprungs immer näher kommen. Ihre Beklemmung wuchs, Atemnot stellte sich ein, und das lag nicht nur an dem Seil, das ihr die Brust umschnürte. Auf diesem Vorsprung war Clarisse begraben gewesen. Neunundneunzig Jahre lang hatte sie dort gelegen. Neunundneunzig Jahre Qual und Hass hinterlassen Spuren, auch auf kalten Felswänden. Lulus Herz schien zerspringen zu wollen, in ihrem Kopf war ein schreckliches Summen, ihr Magen krampfte sich zusammen, Säure stieg ihr in den Mund. Als sie endlich den festen Boden des Vorsprungs unter den Füßen fühlte, ließ sie in der Hast das Feuerzeug fallen, griff blind nach dem goldenen Kistchen und wollte nur noch weg, raus aus dieser schrecklichen Gruft.
»Zieh mich hoch!«, schrie sie panisch.
Damiano reagierte sofort und zog sie hoch. Wanda betete, und Rafaela murmelte Hexensprüche, damit das Seil nicht riss.
Völlig erschöpft lag Lulu auf dem Boden, nass von kaltem Schweiß. Gerade noch schaffte sie es, sich umzudrehen, dann erbrach sie sich in das Loch hinein. Rafaela hielt sie fest. Die anderen tätschelten ihr hilflos den Rücken. Als der Anfall vorbei war, steckte Bumbum ihr liebevoll ein Bonbon in den Mund.
Dann war es so weit, sie sahen sich das goldene Kistchen an – bloß, dass es kein Kistchen war. Es war ein Sprechendes Buch mit einem goldenen Deckel.
»Schön!«, rief die Alte, patschte in die Hände und begann wild zu brabbeln. Das meiste war nicht zu verstehen, doch es schien darum zu gehen, dass sie selbst in vielen Sprechenden Büchern vorkam und dass dieses hier bestimmt auch von ihr handelte.
»Würde mich wundern«, brummte Damiano. Er schob es zu Lulu. »Du hast es geborgen, du schlägst es auf!«
Alle drängten sich dicht um Lulu, sahen gespannt, wie sie ihre Hand auf den Deckel legte und das Buch mit einem Seufzer erwachte. Sie schlug es auf.
Lauer Wind und der Geruch nach Erde entströmten dem Buch. Vogelstimmen. Ein Turm inmitten von Feldern, Felder, so weit das Auge reichte, bepflanzt mit kurzen, sorgsam aufgebundenen Sträuchern. Doch die wirkten krank, grau und vertrocknet. Ein Kind stand auf der Turmplattform, sagte ein paar Worte in der Hexensprache, und rings um den Turm, in den graubraunen Feldern, begannen einzelne rote Blüten zu leuchten, als ob man Laternen angezündet hätte.
Lulu blätterte um, wieder der Turm, wieder ein Kind, ein Junge diesmal, vorher war es ein Mädchen gewesen. Er sprach die
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