Das Geheimnis des Rosenhauses - Roman
übertreiben. Schwester ist vielleicht nicht ganz das, was wir uns vorgestellt haben!«
Wanda grinste.
Sie schliefen lange bis in den folgenden Tag hinein. Gegen Mittag wurde Lulu wach und rannte nach unten, halb darauf gefasst, Graviata in ihrem roten Morgenkleid am Frühstückstisch vorzufinden. Doch sie war noch nicht gekommen. Dienstboten aus dem Palast waren geschickt worden und hatten ihnen Essen und schöne neue Kleider gebracht. Lulu aß etwas und nahm danach ein Bad mit Bumbum, weil sie beide dringend eines nötig hatten und weil Graviata schmutzige Kinder nicht ausstehen konnte. Sie zogen die schönen Kleider an und warteten.
Am Nachmittag lief Lulu kurz nach draußen, um sich in der Gasse zwischen den Mauern mit Corina zu treffen. Die Krähen hatten wieder in den Gemäuern um den Hauptmarkt herum Quartier bezogen. Sie liebten das fette Leben dort, die köstlichen Abfallhaufen nach jedem Markttag. Sie liebten die Kämpfe mit den anderen Krähenbanden. Corinas Gefieder war zerzaust und ihr Blick war wild und stolz.
»Danke, liebste Corina«, sagte Lulu. »Ohne dich und deine Leute hätten wir das alles nicht geschafft.«
»Krah!«, schrie Corina glücklich. Sie umsegelte Lulu, streifte zärtlich ihr Haar mit einem Flügel und sauste eilig in die Stadt zurück, ihren Krähengeschäften entgegen.
Am Abend warteten Lulu und die anderen noch immer auf Graviata. Aus der Palastküche wurden wundervolle Speisen geliefert, sie aßen ein wenig und stellten das meiste in der Küche warm. Es wurde spät. Churro und Ellwin gingen zu Bett, doch die Kinder wollten nicht schlafen, sie hielten Wache im Salon. Die Stunden vergingen, nach und nach dösten sie ein, im Sessel, auf der Chaiselongue, auf dem Boden.
Dann, mitten in der Nacht, erschallte draußen vor dem Haus eine Trompete.
»Mama!«, schrie Bumbum.
17. Kapitel
Z ehn Monate, fast ein Jahr, waren vergangen, seit Graviata aus dem Felsenkerker entlassen worden war. Heute war ihr großes Dankesfest. Sie hatte alle eingeladen, Freunde und Nachbarn und jeden, der ihr und den Kindern während der schweren Zeit beigestanden hatte. Das Mahl war vorüber.
Lulu saß in der alten Eiche und baumelte mit den Beinen. Über ihr in den Zweigen schliefen die Krähen, Kralle hatte sich zu ihnen gesellt. Unter ihr strahlte eine Lichterkette voll bunter Lampions. Darunter saßen die Erwachsenen um den langen Tisch herum, den sie am Morgen aus dem Wintergarten in den Hof getragen hatten. Captain Sabber lag zu Graviatas Füßen und benagte hingebungsvoll einen Knochen. Er knurrte drohend, als Murks an ihm vorüberstrich, doch Murks interessierte sich nicht für den Knochen. Es war die Stunde der Jagd. Er brach auf in den Wald.
Rafaela unterhielt sich mit den Erwachsenen. Sie war jetzt fünfzehn und selbst fast erwachsen. Sogar etwas Wein durfte sie trinken. Ihre Wangen glühten, während sie heftig gestikulierend in ein Gespräch mit Arminio vertieft war, Larabelles ältestem Sohn, den sie nie wieder anzusehen gelobt hatte.
Drüben am Brunnen lagerten die Rattenkinder. Sie hatten sich eine Flasche Wein organisiert, ließen sie kreisen und lachten wild über den reinlichen Ralf, der seinen Anteil vom Festmahl in einem eigens für ihn bereitgestellten Bottich schrubbte.
Lulu sann über die Zeit nach. Zehn Monate waren eine lange Zeit. Dagegen waren die Wochen, die Graviata im Kerker verbracht hatte und in denen ihre Kinder von Gefahr zu Gefahr und von Abenteuer zu Abenteuer gehetzt waren, eigentlich sehr kurz. Merkwürdig war, dass ihr jetzt im Rückblick die Zeit der Abenteuer unendlich lang vorkam, während die ruhige Zeit danach verflogen war wie ein einziger Tag. Dabei war eine Menge geschehen, doch nichts Gefährliches, zum Glück. Lulu hatte genug von gefährlichen Sachen. Das meiste war gut gewesen, nicht alles, aber das meiste.
Das Beste war natürlich Graviata. Sie war wieder da. Kaum verändert, ein wenig älter vielleicht, mit winzigen Fältchen um die Augen und einer schmalen weißen Strähne im Haar. Sie wollte das so lassen, fand, dass es ihr stand, und es erinnere sie stets daran, sagte sie, dass sie nicht zu hochmütig werden durfte, Dinge konnten sich ändern, Glück konnte vergehen. Ungewöhnliche Töne für die stolze Graviata. Manchmal ließ sie alle Arbeit liegen, rief ihre Kinder zu sich und umarmte sie, einfach so.Während der ersten Tage nach ihrer Entlassung hatte sie fast nichts anderes getan.
Doch dann, nach und nach, war so etwas wie Alltag in
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