Das Geheimnis des Rosenhauses - Roman
Rafaela, Damiano und Wanda blieben noch beim Feuer sitzen und unterhielten sich. Manchmal drangen Fetzen ihres Gesprächs zu Lulu herüber. »Ganz und gar mit Geschwüren bedeckt«, verstand sie. »Aufgeschwollen wie eine Wassermelone«, »Hexenpolizei!«, »Hochverrat!«
Sie wollte davon nichts mehr hören und kroch tief unter ihre Decke. Da wimmelte es zwar von Flöhen, aber die waren wenigstens still. Sie dachte an ihre Mama und schickte ihr in Gedanken einen Kuss. Vielleicht spürte Graviata ihn ja und fühlte sich nicht mehr ganz so verloren. Es war eine Sache, einen Pakt zu ihrer Befreiung zu schließen, doch es war eine andere, ihn zu erfüllen. Was konnten sie nur tun?
Der Prinz, dachte Lulu plötzlich. Ich muss mit Prinz Dorvid sprechen. Sie sah ihn wieder in Graviatas Labor stehen, so bloß, so verletzlich. Sie sah, wie dankbar er Graviata gewesen war, wie glücklich, dass sie ihm hatte helfen können. Er kann nicht wirklich glauben, dass Mama ihn verhext hat, dachte Lulu. Ich muss mit ihm reden. Wenn es sein muss, werde ich mich ihm zu Füßen werfen. Manfredo und Wanda kannten sich im Palast aus, überlegte sie weiter. Sie würden ihr helfen, zum Prinzen zu gelangen. Diese Abwasserkanäle führten überallhin, warum nicht zum Palast? Auch in einem Königspalast gab es Abwasser. Gleich morgen machen wir einen Plan, dachte sie und schlief ein.
Sie träumte, dass sie durch einen Kanal kroch, einen niedrigen, schmutzigen, ewig langen Kanal. Endlich öffnete sich eine enge Luke, goldenes Licht schien herein. Lulu wand sich hinaus und war in einem riesigen Saal, ganz in Weiß und Gold. Das einzige Möbelstück darin war ein goldener Thron. Prinz Dorvid saß darauf und lächelte huldvoll. Lulu war über und über mit Schlamm bedeckt und warf sich mit ausgebreiteten Armen auf den Boden, vor den Thron. Dabei gab es ein schmatzendes Geräusch.
Auweia!, dachte sie im Traum.
Prinz Dorvid aber erhob sich, trat zu ihr hin und überreichte ihr ein Schriftstück, auf dem geschrieben stand, dass die Hexe Graviata sofort freizulassen sei. Lulu wusste das, obwohl sie nicht lesen konnte, und sie war sehr froh.
So ging Lulus Traum. Aber in der Wirklichkeit kam alles ganz anders.
11. Kapitel
S ie erwachte mit Kopfschmerzen und einem Geschmack im Mund, der so ähnlich war, wie die Kanäle rochen. Das lag vermutlich an dem Schlückchen Schnaps, das sie getrunken hatte, und an der Luft, die sie atmete. Und immer noch war sie schrecklich müde, als hätte sie nicht mehr als ein paar Augenblicke geschlafen. Sie war aufgewacht, weil etwas geschehen war.
Schon wieder war etwas Schlimmes geschehen. Lulu wusste es.
Die Rattenkinder waren sehr erregt. Sie standen um die Feuerstelle herum und sprachen aufeinander ein, gedämpft, doch unverkennbar ängstlich. Einer der kleinen Jungen brach in Tränen aus, ein anderer versuchte ihn zu beruhigen. Neben Lulu schälten sich Rafaela und Wanda aus ihren Decken, Bumbum schlief noch, eng an Ralf gekuschelt. Der Waschbär hatte die Augen geöffnet und schaute hinüber zum Feuer. Sein langer, geringelter Schwanz fegte nervös den Boden.
»Was ist denn bloß los?«, gähnte Rafaela.
Damiano, der bei den Rattenkindern gestanden hatte, kam mit großen Schritten herüber. Er hinkte nicht mehr. »Wir müssen weg«, sagte er, »schnell!«
»Was ist denn?«
»Soldaten«, sagte Damiano. »Sie durchsuchen die Kanäle.«
Er beugte sich zu Bumbum hinunter und hob ihn auf. Der Kleine seufzte verschlafen und rieb sich die Augen.
»Fuchs ist aufgeflogen«, sagte Damiano. »Die Soldaten haben sein Hippodrom gestürmt und jeden kassiert, der noch drin war. Ihr habt unglaubliches Glück gehabt.«
»Woher weißt du das?«
»Von zwei Rattenkindern von einem anderen Clan. Ihr Nest wurde schon ausgehoben. Die beiden konnten fliehen. Sie haben die Soldaten belauscht. Also los, kommt jetzt!«
»Was ist mit Manfredo?«, fragte Wanda.
»Wer ist Manfredo?«, fragte Damiano zurück.
»Er ist unser Freund. Er hat uns geholfen. Ohne ihn hätten wir uns nie so lange verstecken können«, erklärte Lulu. Sie kroch auf dem Boden herum und zog Bumbums Ente unter einer Kiste hervor, mehr Gepäck hatten sie nicht. Das Kistchen mit dem Gold, ihr ganzes Vermögen, hatten sie im Hippodrom zurückgelassen. Sie waren bettelarm, hatten nichts mehr als die verdreckten Sachen, die sie am Leib trugen.
Ihr wurde schwindelig, sie musste sich einen Moment setzen. Rafaela dachte offensichtlich dasselbe. Sie sank neben Lulu
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