Das Geheimnis des Scriptors
diese Weise abgesetzt hatte – der älteste Bruder meiner Mutter. Er war noch verschrobener gewesen als ihre anderen beiden abgedrehten Brüder Fabius und Junius. Nun war er derjenige, über den niemand mehr sprach.
IX
A uf dem Treppenabsatz war ein großer wildäugiger, zähnefletschender, scharrender schwarz-weißer Hund angebunden, als ich zum Mittagessen heimkam. Zum Hades, das war Ajax. Ich wusste, was es bedeutete. Nux knurrte ihn mit seit langem gehegter Feindseligkeit an. Ich tätschelte und beruhigte Ajax, der ungebärdig, aber harmlos war. Als von drinnen mein Name gerufen wurde, trat ich pflichtschuldig ein.
Das Mittagsmahl stand auf dem Tisch. Julia versteckte sich unter demselben. Favonia gab sich die größte Mühe, aus ihrer Wiege zu klettern. Helena schaute frostig.
Julia versteckte sich, weil wir Besuch von ihrem Vetter hatten, Marcus Baebius Junillus, einem Kleinkind, das taub war, leicht zu erregen und die Angewohnheit hatte, plötzlich schrille Schreie auszustoßen. Favonia wollte unbedingt mit ihm spielen; sie liebte alles Exzentrische. Helena war frostig, weil der kleine Marcus (und ebenso der sabbernde Hund Ajax) von meiner Schwester Junia zu uns gebracht worden waren. Junia, berühmt für ihr aufbrausendes Temperament, für ihren lächerlichen Ehemann Gaius Baebius, den Zollamtsleiter, und dafür, das Flora in den Ruin getrieben zu haben, eine einst äußerst beliebte Caupona, die sie geerbt hatte – so sah Junia das zumindest –, als die Geliebte meines Vaters starb.
»Hallo, Bruder.«
»Salve, Schwester. Du siehst aus wie ein Bild.«
Junia warf mir einen schrägen Blick zu, da sie vermutete, und dies zu Recht, dass ich ein Bild meinte, für das ich keinen Nagel finden würde. Sie kleidete sich formell – jede Falte an ihrem Platz – und steckte ihr Haar in dicken Rollen auf. Als selbstgerechte Wichtigtuerin hatte sie sich immer vorgestellt, dass ihr steifer Aufzug sie wie eine der Matronen der kaiserlichen Familie aussehen ließ – die altmodischen, strengen, die nie mit ihren Brüdern oder dem Stadtpräfekten schliefen und für die niemand etwas übrighat. Keinerlei Zwangsmaßnahmen würden jedoch Junias verzogenen kleinen Sohn jemals zum Kaiser machen. Das war der Grund, warum Helena von mir stets Höflichkeit verlangte. In Ermangelung eigener Kinder hatten Junia und Gaius bereitwillig Marcus adoptiert, als er als Säugling ausgesetzt worden war. Sie hatten gewusst, dass er taub war. Sie gingen tapfer damit um.
Junia ritt jedes Mal, wenn wir uns trafen, auf diesem Akt der Nächstenliebe herum. Ich hatte sie nie gemocht, und meine Geduld mit ihr war kurz vor dem Verdampfen. Und das bereits, bevor sie schamlos sagte: »Wir hörten, dass du Urlaub in Ostia machst und die ganze Familie hier bei dir unterkommen wird. Ich habe mich beeilt, die Erste zu sein.«
Gaius Baebius arbeitete hier am Hafen. Das tat er schon seit Jahren, und jeder andere hätte sich inzwischen eine Wohnung besorgt. Stattdessen ließ ihn der Geiz auf einer Pritsche im Zollamt schlafen, wenn er über Nacht blieb. Für ihn musste die fehlende Wohnung den Vorzug haben, dass sie Junia davon abhielt, ihn zu besuchen.
»Ich mache keinen Urlaub«, entgegnete ich kurz angebunden.
Helena fügte hastig hinzu: »Leider muss ich dir sagen, dass wir keinen Platz für dich haben, Junia. Albia und Julia schlafen in unserem zweiten Zimmer, die kleine Favonia muss bei uns schlafen, und der arme Aulus muss sich hier auf dem Fußboden ausstrecken …«
Junia ordnete die zahllosen Stränge ihrer Halskette und wischte das Gesagte beiseite. »Ach, mach dir keine Sorgen. Nachdem ich gesehen habe, wie komfortabel Maia in diesem herrlichen Haus untergebracht ist, werden wir uns bei ihr einquartieren.«
Ich bemerkte, Maia sei sicherlich begeistert. Junia betrachtete mich finster.
»Wenn du keinen Urlaub machst, Marcus, willst du hier wohl wieder eine deiner dämlichen Großtaten vollbringen, nehme ich an. Was ist es diesmal?«
»Ein Vermisstenfall.«
»Oh, du solltest Gaius um Hilfe bitten. Er kennt absolut jeden in Ostia.«
Wer hatte sich das denn ausgedacht? Mein Schwager war vollkommen ungesellig, die Menschen wichen ihm aus. Er war ein schwerfälliger, dozierender, langweiliger, prahlerischer Faulenzer. Er wusste auch, wie er mir auf die Nerven gehen konnte. Ständig beharrte er darauf, sich mir anzuschließen, wenn er mich in einer Taverne erwischte, und überließ es mir dann, die Zeche zu zahlen. »Hast du
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