Das Geheimnis des Spiegelmachers (German Edition)
anhand der vielen Kirchtürme ermitteln, auch wenn Nebel oder Schneewolken die Sonne verbargen.
Eines Morgens kam er zum ersten Mal wieder durch die Straße, in der er die Diebin getroffen hatte. Er hielt vor dem Haus, in dessen Innenhof er sie geschoben hatte, und stellte den Karren ab, um das Gebäude zu betrachten.
Nik wanderte an der Fassade entlang und sah zu dem verblichenen Holzschild über dem Eingang hinauf, das sich knarrend in dem leichten Wind wiegte. Es hatte sich an einer Seite aus der Verankerung gerissen und würde beim nächsten Sturm auf die Straße fallen.
Nik blieb stehen und versuchte, den Namen zu entziffern, der vor vielen Jahren darauf gemalt worden war. Die Buchstaben waren verblasst, doch in ihrer Mitte erkannte er einen Krug. Niks Herz schlug aufgeregt. Das Haus war offensichtlich keine Schenke und musste deshalb eine Werkstatt gewesen sein.
Es begann wieder zu schneien. Winzige Flocken fielen aus dem grauen Himmel und tanzten durch die Luft. Nik stellte den Karren ab und zog das Tuch fest über die Säcke mit der Schafwolle. Dann trat er zu einem der Fenster und wollte einen Blick hineinwerfen, bevor er weiterzog. Doch sie waren mit Brettern vernagelt und verbargen das Innere des Hauses. Er drückte die Nase gegen das raue Holz, aber er konnte nichts erkennen. Die Schneeflocken wurden dichter und der kalte Wind blies immer stärker durch die Gassen.
Nik schlug den Kragen seiner Jacke hoch und zog den Karren eilig weiter.
Ellie warf die löchrige Decke auf die Holzbohlen und sprang auf. Seit Wochen hatte niemand die verlassene Werkstatt beachtet, und sie hatte mit dem Gedanken gespielt, in das kleine warme Haus ihrer Tante umzuziehen oder Francis um eine Stelle als Lehrling zu bitten.
Sie fror erbärmlich in ihrer notdürftig geflickten Kleidung und traute sich nicht mehr, Essen zu stehlen. Sie war der Bestrafung nur knapp entronnen und träumte seitdem jede Nacht davon, wie ihr eine vermummte Gestalt die Hände abhackte. Trotz der Kälte wachte sie vor dem Morgengrauen schweißüberströmt auf. Doch gerade, als sie bereit war, ihr zugiges Versteck zu verlassen und ein neues Leben zu beginnen, war der Bursche wieder aufgetaucht und hatte ihre Angst neu entfacht. Sie fluchte leise. An Zufälle glaubte sie nicht. Doch der Junge verhielt sich zu auffallend und zu ungeschickt, um im Auftrag der Gilde unterwegs zu sein. Außerdem war sie ihm mühelos entkommen, nachdem er sie vor der Stadtwache versteckt hatte.
Ellie ließ sich wieder auf den Boden fallen und sah durch das zerbrochene Fenster auf die Straße hinunter. Unschlüssig ballte sie die kalten Hände zu Fäusten und rieb sich damit warm, um in dem eisigen Wind, der durch die Schindeln pfiff, nicht zu erfrieren.
Benthe stand allein vor der Tür des Mannes, in dessen Haus sie die nächsten vier Jahre leben würde. Ihre Mutter musste für Helena van Leeuwenhoek einen Auftrag erledigen, der nicht warten konnte. Sie würde erst am Sonntag vorbeikommen und Benthe in ihrem neuen Zuhause besuchen. Ihr Vater war auf dem Weg nach Indonesien und sie hatte ihn seit Monaten nicht gesehen.
Benthe dachte an Nik und fühlte sich so einsam wie nie zuvor in ihrem Leben. Sie atmete tief ein. Dann hob sie die Hand, um an die Tür ihres neuen Heims zu klopfen.
Ein Mädchen öffnete ihr. Es war noch nicht einmal Mittag, doch sie sah müde aus. Ihre Haut war blass und dunkle Schatten lagen unter ihren Augen.
Benthe zwang sich zu lächeln. »Ich bin Benthe«, sagte sie und streckte dem Mädchen die Hand entgegen.
»Mia«, murmelte die andere. Sie musste wie Benthe etwa 13 Jahre alt sein.
Benthe zog ihre Hand wieder zurück, weil Mia sie nicht beachtete. Sie wusste nicht, was für ein Verhalten von Lehrlingen erwartet wurde. Helena van Leeuwenhoek wollte sie aus dem Haus haben und ihre Mutter hatte zugestimmt. Was für eine Lehre sie machen sollte, bevor sie verheiratet wurde, hatten sie ihr nicht gesagt.
Benthe hoffte, sie würde nicht zu viel mit Zahlen und Buchstaben zu tun haben. Sie hatte nur wenig Geduld und keine Begabung dafür und würde es nicht lange verheimlichen können.
»Bist du schon lange hier?«, fragte Benthe das Mädchen, aber Mia antwortete nicht. Sie drehte sich um und ging wortlos in die Werkstatt hinein. Benthe folgte ihr.
Mia deutete auf die Treppe zum ersten Stock. »Dort oben schlafen wir.«
Benthe drehte sich um und starrte mit offenem Mund die Wände an. Aus unzähligen Spiegeln sah ihr ungläubiges Gesicht von den
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