Das Geheimnis des Spiegelmachers (German Edition)
das vor ihr lag. Immer wieder kniff sie die Augen zusammen und legte den Kopf auf die Seite. Dann fuhr sie fort.
Luuk stellte sich auf die Zehenspitzen und zog sich am Fensterrahmen hoch. Doch er konnte nicht mehr erkennen als ihren Kopf und den oberen Teil eines weißen Leinenkleides, das sich eng um ihren Hals schloss.
Mit offenem Mund stand Luuk vor dem Fenster und betrachtete ihr Gesicht. Es war Benthe, die er hinter der Scheibe arbeiten sah, aber irgendwie war sie es auch nicht.
Ihre Wangen waren gerötet und die Augen glasig wie die einer Fieberkranken.
Luuk konnte den Blick nicht von Benthes angestrengtem Gesicht abwenden und fragte sich erneut, ob sie es wirklich war oder ob ihm seine Augen einen Streich spielten.
In der Mitte der Werkstatt stand Heinrich am offenen Feuer. Mit einem dumpfen Klopfen schlug er regelmäßig wie ein Uhrwerk auf einen rot glühenden Spiegelrahmen ein. Benthes Stirn glänzte und ihr Blick verklärte sich immer mehr. Luuk krallte die Hände um den Holzbalken unter dem Fenster. Auf einmal sackte das Mädchen zusammen und war verschwunden. Besorgt reckte er sich und sprang schließlich in die Luft, weil er sie nirgends entdecken konnte.
Luuk lief zur Tür der Werkstatt und legte die Hand auf das Holz. Er zögerte und zog sie zurück. Hastig lief er wieder zum Fenster und spähte abermals hinein. Jetzt konnte er erkennen, dass Benthe auf dem Boden vor einem Tisch lag, während Heinrich auf den Spiegelrahmen klopfte. Dann ließ er den Hammer sinken, beachtete die ohnmächtige Benthe nicht weiter und ging auf das Fenster zu, hinter dem Luuk ihn beobachtete. Erschrocken stolperte dieser ein paar Schritte zurück in die Dunkelheit. Doch Heinrich öffnete das Fenster nicht, sondern schlug an eine kleine Glocke. Dann ging er zurück zum Feuer, wobei er nicht weiter auf Benthe achtete, als er über sie hinwegstieg. Luuk hob die Fäuste, um empört gegen das Glas zu trommeln, hielt dann aber unschlüssig inne.
Heinrich tauchte glühendes Eisen in einen Wasserkübel und Dampfwolken stiegen zischend in die Luft auf und hüllten das ganze Zimmer in dicken Nebel. Als er sich auflöste, erkannte Luuk zwei Mädchen neben dem Spiegelmacher. Sie knieten sich auf den Boden und verschwanden aus Luuks Blickfeld. Dann erhoben sie sich wieder. Sie hatten sich Benthes Arme über ihre schmalen Schultern gelegt. Eines der Mädchen drehte sich kurz um. Luuk erschrak über ihr blasses müdes Gesicht. Das Mädchen konnte nicht viel älter sein als er selbst, doch um ihre Augen zogen sich unzählige feine Linien und dunkle Flecken lagen auf ihren Wangen.
Heinrich sah nicht auf, als sie an ihm vorbeiwankten und sich die Treppe hinaufschleppten.
Als die Sonne hoch am Himmel stand und der Wind auffrischte, verließ die Ålborg den Londoner Hafen. Nik kauerte vor dem Fenster und betrachtete wehmütig die Häuser, an denen sie vorbeizogen. London war zu seiner zweiten Heimat geworden. Beklommenheit machte sich in ihm breit, als er an Olivia und Joseph dachte, weil er ihnen gerne für ihre Gastfreundschaft und Fürsorge gedankt hätte. Schließlich waren die beiden ihm in den letzten Monaten zur Familie geworden. Vielleicht konnte er ihnen schreiben, wenn er wieder zurück in Amsterdam war.
Die Häuser der Stadt wichen Wäldern, Moor und einzelnen Hütten. Als ein Schäfer mit seiner Herde am Ufer der Themse auftauchte, legte Nik seinen Kopf erschöpft auf die Arme. Er vergrub die Nase in der groben Wolle und schlief ein.
Nik wachte ohne sein Hemd auf und ein beißender Geruch stieg ihm in die Nase. Jemand hatte seine Wunde an der Seite versorgt und mit einer Salbe bestrichen, die wie Feuer auf seiner Haut brannte. Alexej reichte ihm Wasser und Brot. Er aß und trank, betrachtete Ellie, die mit geschlossenen Augen neben ihm lag, und fiel selbst wieder in einen unruhigen Schlaf. Die ersten Tage an Bord vergingen wie in einem Nebel. Sie sprachen kaum miteinander und verschliefen die meiste Zeit.
Dann wachte Nik von flüsternden Stimmen auf. Als er die Augen öffnete und sich aufsetzte, saßen Ellie und Alexej auf dem Boden unter dem Fenster und unterhielten sich.
»Nik, du bist wach«, begrüßte ihn Ellie. Sie lächelte ihn an, doch die Erschöpfung und die Schmerzen hatten Spuren in ihrem hübschen Gesicht hinterlassen. Die kleinen Narben leuchteten dunkel wie Brandmale auf ihrer blassen Haut.
»Wie geht es dir?«, wollte er wissen.
»Es wird besser.«
Nik wandte sich an Alexej. »Ich weiß nicht, wie
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