Das Geheimnis des Spiegelmachers (German Edition)
geschlagen war.
Nik bemühte sich, langsam und tief zu atmen. Dann zog er sich wieder hoch, beugte sich vor und betrachtete Benthe, die unter dem Fenster schlief. Es war seine Benthe und doch sah sie aus wie eine alte Frau. Ihr langes blondes Haar wirkte strohig und grau. Tiefe Ringe zeichneten sich unter ihren Augen ab, als hätte Benthe seit Tagen keinen Schlaf gefunden. Wenn ihm das Mondlicht keinen Streich spielte, verteilten sich winzige Falten und Runzeln um ihren Mund und ihre Augen.
Im Haus rumpelte es wieder und dann hörte Nik Schritte auf der hölzernen Treppe. Er fuhr zusammen. Schnell schob er sich durch das geöffnete Fenster. Die Zeit war knapp.
Er legte eine Hand auf Benthes Mund, damit sie ihn nicht verriet, und flüsterte ihr leise etwas ins Ohr. Es fühlte sich seltsam an, der vertrauten Freundin nahe zu sein und gleichzeitig einen fremden Menschen in ihr zu sehen. Die Schritte wurden lauter.
Nik rüttelte Benthe an der Schulter, doch sie rührte sich nicht. Die Schritte hatten das obere Stockwerk schon fast erreicht. Nik zerrte die Decke zur Seite und legte seine Hände unter Benthes Knie. Er hob sie hoch und trat mit ihr an das Fenster. Als er sie auf die Beine stellte, fiel ihr Kopf an seine Brust. Nik schloss für einen Moment die Augen. Benthe roch anders als früher. Ihre Beine gaben nach und sie sackte zusammen. Schnell griff er ihr unter die Arme und knüpfte das Seil um ihre Taille. Die Tür wurde knarrend geöffnet, als er sich mit ihr durch das Fenster schob.
Das Seil brannte in seinen Händen, als er sich und Benthe hinabließ. Ellie löste den Knoten und legte sich einen von Benthes Armen über die Schulter. Nik schüttelte den Kopf.
»So kommen wir nicht weit.« Er hob Benthe hoch und starrte nach oben. Am Fenster war niemand zu sehen. Trotzdem ging er zurück in den Schatten des Baumes und zog Ellie mit sich.
In diesem Moment trat Heinrich mit einer Öllampe an das offene Fenster und sah auf die Straße hinunter. Ellie sog neben ihm keuchend die Luft ein.
»Das ist er«, flüsterte sie und drängte sich dichter an den Baumstamm. Nach wenigen Herzschlägen war der Spiegelmacher wieder verschwunden. Nik spürte eine Gänsehaut auf seinem Rücken. Das bleiche Gesicht und das helle Haar hatten im flackernden Licht der Lampe geisterhaft gewirkt.
Er sah zu Ellie. Sie zitterte am ganzen Körper.
»Ellie, wir müssen gehen.«
Sie bewegte sich nicht.
»Ellie, wir kommen zurück. Aber jetzt müssen wir los.«
Endlich drehte sie sich zu ihm um. Ihr Gesicht hatte alle Farbe verloren, doch ihr Blick war wieder klar.
»Kannst du sie tragen?«, fragte sie und deutete mit dem Kinn auf Benthe.
Er nickte. Sie war mittlerweile nicht viel schwerer als zwei Ballen Tuch, und er hatte schon eine Idee, wo sie sich verstecken konnten, falls Heinrich sich Benthe zurückholen wollte.
Als Ellie und Nik mit Benthe um die nächste Ecke gebogen waren, wurde die Tür zur Werkstatt des Spiegelmachers geöffnet. Carmen trat auf die Straße, dann sah sie zum geöffneten Fenster hinauf, zu dem Heinrich zurückgekehrt war, um ihr das verabredete Zeichen zu geben. Es war niemand auf der Straße zu sehen und sie konnte unentdeckt nach Hause gehen.
Carmen hielt ihren kleinen Spiegel in der Hand. Heinrich hatte darauf bestanden, dass sie ihn behielt, und sie war erleichtert darüber gewesen. Schließlich hatte das wunderbare Kunstwerk nur als Vorwand für einen weiteren Besuch beim Spiegelmacher gedient und sie hätte ihn nur äußerst ungern wieder zurückgegeben. Carmen zwang sich, nicht schon wieder hineinzublicken. Wenn sie ihr zerzaustes Haar und ihre roten Lippen darin sah, würde sie zurück in das warme Bett kriechen wollen, das sie soeben verlassen hatte. Aber sie durfte nicht zurück. Um ihretwillen und um seinetwillen musste sie nach Hause gehen. Carmen seufzte.
Sie besaß genug Würde, um nicht noch einmal sehnsüchtig zu dem Geliebten zurückzuschauen, der am Fenster über sie wachte.
Sie hatten auf dem Weg zum Hafen zweimal die Stadtwache gekreuzt und sich in kleine Seitenstraßen geschlagen, als sie die schweren Stiefel auf dem Pflaster vor ihnen gehört hatten. Die Männer waren an ihnen vorbeigezogen und hatten sie nicht behelligt.
Als Nik die Lagerhäuser am Ende der Straße erblickte, atmete er auf. Benthe war beim Tragen immer schwerer geworden. Ihre schlaffen Arme schlugen ihm gegen die Knie und er war schon mehrmals auf den Saum ihres langen Leinenkleides getreten und ins Stolpern
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